Pflicht und Verlangen
es nicht gelten, dass er widersprach und legte ihm
besänftigend die Hand auf die Lippen. »Versteh’
doch, ich könnte es nicht ertragen, diese Schuld auf mich zu
laden. Ich kann nicht das Leben von anderen Menschen zerstören –
vor allem nicht das deine –, nur um selbst ein zweifelhaftes
Glück zu finden. Denk doch nach, John! Es hat keinen Sinn, du
musst mich gehen lassen und vergessen.«
» Das
kann ich nicht! Ich kann nicht …«, wieder klammerte er
sich an sie und begann zu weinen.
Es
quälte sie, ihn in solcher Seelennot zu sehen, dennoch hatte sie
keine andere Wahl. Es war unmöglich und aussichtslos, sie
durften ihrem Verlangen einfach nicht nachgeben. Und was sollte aus
der verstoßenen Lady Battingfield werden? Gewiss, sie wäre
finanziell versorgt, aber gesellschaftlich ebenfalls kompromittiert.
Das würde eine Frau wie sie nicht ertragen. Das alles durfte
einfach nicht geschehen, so hart es auch für sie war.
Seltsamerweise spürte sie nun, wie ihre Kraft zurückkehrte.
Eine Kraft, die ihr helfen würde, das was auf sie zukam zu
ertragen. Es gab außerdem Menschen, die sie brauchten, die auf
sie zählten. Sie konnte nicht aufgeben und sie konnte nicht
zulassen, dass John Battingfield aus blinder und hoffnungsloser Liebe
zu ihr seine Stellung und seine Ehe zerstörte. Entschlossen
befreite sie sich aus seiner Umarmung. Sie musste ihn jetzt
verlassen, um seiner selbst willen. Was aus ihr wurde, war
zweitrangig. Für sie bestand nur die Wahl, sich Terency zu
stellen oder aber eine unmögliche Verbindung mit unabsehbaren
Folgen einzugehen. Es war keine wirkliche Wahl. Als könne er die
unerbittliche Endgültigkeit ihrer Worte nicht fassen, griff John
sich mit einer Geste der Wut und Verzweiflung an den Kopf und gab
einen Klagelaut von sich, der sie erschreckte. Aber er hinderte sie
nicht daran, zu gehen. Obwohl er sich noch dagegen wehrte, schien er
zu wissen, dass der Kampf verloren war, dass es sinnlos war, sie noch
weiter anzuflehen.
Als
sie sich von ihm entfernte, streckte er dennoch hoffnungslos bittend
seine Hand nach ihr aus. Doch er musste endgültig einsehen, dass
ihr Entschluss feststand.
Im
Gehen wandte sie sich noch einmal um und lächelte ihn traurig
an. »Ich liebe dich, John und ich bin unendlich dankbar für
deine Liebe, aber es muss sein«, sagte sie fest und trat hinaus
in die Nacht.
******
Charlotte
war froh, als sie endlich die erleuchteten Fenster von Dullham Manor
durch die Regenschleier erblickte. Ein letztes Mal, dachte sie
wehmütig. Sie wusste nur zu genau, dass sie dieses Haus, das ihr
fast ein Heim geworden war in den letzten Wochen, für immer
verlassen musste. Nie mehr durfte sie hierher zurückkehren. Zwar
würde sich durch die Nachbarschaft mit den Battingfields ein
zumindest loser Kontakt nicht vermeiden lassen, aber sie hoffte,
betete, dass es ihr gelingen würde, dem Mann, der ihr eben so
verzweifelt seine Liebe gestanden hatte, so gut sie es eben vermochte
aus dem Weg zu gehen. Kurz schwankte sie in ihrem Entschluss. Der
Schmerz, den sie bei diesem Gedanken empfand, war zu heftig. Dann
aber nahm sie sich zusammen.
Sie
würde am nächsten Tag im Morgengrauen aufbrechen, denn es
war dringend angeraten, ihre Abreise nun nicht mehr hinauszuzögern.
Nur einen Menschen wollte sie noch aufsuchen: ihren väterlichen
Freund Dr. Banning. Er würde sie verstehen, würde ihr
vielleicht sogar raten können. Doch zunächst musste sie
ihre nassen Kleider loswerden. Eine Überlegung, die sie kurz
ungläubig auflachen ließ. Noch vor wenigen Stunden war ihr
ihr Leben und ihre Gesundheit völlig gleichgültig gewesen.
Nun aber, da die Kraft ihres Entschlusses sie wie ein fernes, aber
klares Licht leitete, begann sie Verantwortung zu übernehmen,
für sich und für andere Menschen. Sie fühlte sich
plötzlich um Jahre gealtert. War das Erwachsenwerden so schwer?
Musste es so schmerzhaft vor sich gehen?
Durch
eine schmale Pforte am Ostflügel betrat sie das Herrenhaus. Sie
hoffte inständig, dass keiner sie bemerken würde, doch als
sie die große Eingangshalle passierte, öffnete sich die
Tür zum hell erleuchteten Salon und Lady Battingfield erschien
in dem größer werdenden Spalt.
» Ach,
Miss Millford, Sie sind es? Du meine Güte, Sie sind ja völlig
durchnässt. Sie sollten wirklich mehr auf sich achten.«
Tadelnd schnalzte sie mit der Zunge. »Wo waren Sie denn heute
den ganzen Nachmittag? Ich hatte gar niemandem zum Reden, dabei …«,
sie lächelte vielsagend, um
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