Pflicht und Verlangen
Es
war nur wahrscheinlich, dass sie in ihrer Verzweiflung auch diesmal
so gehandelt hatte. Wie sollte er sie nun finden? Das Gelände
war unübersichtlich und riesig. Doch er musste es versuchen.
Womöglich stieß ihr etwas zu, so völlig durcheinander
wie sie ihn verlassen hatte – und das wäre letztlich seine
Schuld. Nackte Angst schnürte ihm die Kehle zu, als er sich auf
sein in fliegender Hast gesatteltes Pferd schwang und sich, auf eine
Ahnung hin, dem großen Waldgebiet zuwandte.
Kapitel
20
Gegen
Abend setzte feiner Nieselregen ein. Charlotte war seit Stunden
unterwegs. Es dämmerte bereits. Sie war einfach fortgerannt,
ohne auf den Weg zu achten und war nun sterbensmüde, hungrig und
völlig durchgefroren. Der feine Regen, der immer stärker
wurde, durchnässte sie bis auf die Haut. Sie würde sich den
Tod holen, aber was machte das schon? Was machte es denn aus, wenn
sie sich aus diesem Leben verabschiedete? Vielleicht war das ja die
beste Lösung, dachte sie bitter, wenn auch nicht ganz ernsthaft.
Sich etwas anzutun kam für sie nicht infrage. So schnell konnte
und wollte sie nicht aufgeben! Noch hatte sie ihren Mut und ihren
Verstand. Wenn auch die Chancen gering waren, dass sich ihre
Situation auf Millford Hall zum Besseren wendete, so war sie dennoch
willens, auch die kleinste Möglichkeit wahrzunehmen. Zudem
zählten Mrs Sooner und Emmy auf sie. Sie konnte sich ihrem
gegebenen Versprechen nicht entziehen, auch wenn es sie weit mehr Mut
und kühle Nervenstärke kostete, als sie vielleicht
aufzubringen in der Lage war. So zwang sie sich, endlich die
Bedürfnisse ihres Körpers zur Kenntnis zu nehmen. Kälte
und Hunger plagten sie immer mehr. An ihre überaus starken und
verbotenen Gefühle für den Mann, der Herr auf Dullham Manor
war, wollte und durfte sie jetzt einfach nicht mehr denken. Ja, sie
hatte ihn geküsst und es war wunderschön gewesen. Sie
wusste in ihrem tiefsten Inneren, dass sie sich danach gesehnt hatte,
so sehr wie sie wusste, dass sie ihn liebte. Aber sie hatte es nicht
herbeiführen wollen. Es war in einem Moment der Schwäche
und Verwirrung geschehen und deshalb vielleicht verzeihlich.
Ohne
es geplant zu haben, hatte sie sich, nachdem sie in einem weiten
Bogen durch die Wälder Dullhams gelaufen war, wieder den
Parkanlagen von Dullham Manor genähert. Der Regen wurde nun
immer heftiger und es schüttelte sie vor Kälte, als sie
schließlich auf einen kiesbestreuten Pfad traf. Sie beschloss,
dem Weg zurück in den Park zu folgen. Es musste hier in der Nähe
ein hübscher, aus Sandstein gebauter Pavillon stehen, den sie
schon einmal bei einem Spaziergang mit Lady Battingfield (allein der
Gedanke an sie ließ Wellen der Scham in Charlotte aufsteigen)
aufgesucht hatte. Er lag etwa eine halbe Meile vom Herrenhaus
entfernt an einem kleinen See. Charlotte beschloss, dort vor dem
Regen Zuflucht zu suchen und ihre nächste Zukunft in Ruhe zu
überdenken.
Nach
kurzer Zeit tauchte das helle Kuppeldach des Gebäudes auf.
Dankbar erinnerte sie sich, dass der Pavillon über eine halb
geschlossene Seite verfügte, die sie vor dem zunehmend
aufkommenden Wind schützen würde. Zitternd die Arme um sich
geschlungen sprang sie die wenigen Stufen ins Innere hinauf und
bemerkte zu spät, dass sie nicht allein war.
John
stand an eine der Säulen gelehnt und starrte von ihr abgewandt
auf die Wiesen im Regen. Seine Haltung drückte Erschöpfung
und Kummer aus. Wie konnte es sein, dass sie ausgerechnet ihm wieder
in die Arme laufen musste?, dachte Charlotte entsetzt und wandte sich
um, um den Pavillon wieder zu verlassen, doch da hatte er sie schon
bemerkt. Als wäre sie ein Geist, starrte er sie mit wildem Blick
an, um dann die kurze Distanz zwischen ihnen mit wenigen Sätzen
zu überwinden.
» Charlotte!«,
stieß er hervor und riss sie an sich. Seine stürmische
Umarmung nahm ihr fast den Atem. »Wo bist du gewesen? Ich habe
dich überall gesucht!« Er umklammerte sie, als hätte
er Furcht, sie könnte ihm noch einmal entfliehen und schluchzte:
»Ich hatte solche Angst um dich!«
Charlotte
merkte betroffen und erstaunt, dass er weinte. Es tat ihr weh, ihn so
verzweifelt zu sehen. Warum sollte sie dann, angesichts seiner
starken Gefühle, noch länger Distanz waren? Sie hob die
Hand und wischte sanft die Tränen aus seinem qualverzerrten
Gesicht. »John, ich wollte nicht …«
Als
Antwort umfing er sie noch enger, legte seine Wange an die ihre und
brachte mühsam hervor: »Du kannst mich nicht
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