Pflicht und Verlangen
fühlte sich hilflos
und ausgeliefert und konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Plötzlich
spürte sie, wie zwei starke Hände sie ergriffen und wieder
aufrichteten.
» Charlotte?
Um Himmels willen …! Was ist geschehen?« John
Battingfield war ihr nachgegangen und hatte sie folgerichtig an ihrem
Lieblingsort vermutet. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Doch
jetzt war sie einfach dankbar für seine Nähe und seine
beruhigende Stärke. Unfähig zu einer klaren Antwort und in
ihrer Verzweiflung am ganzen Körper zitternd, konnte sie sich
kaum auf den Beinen halten. Sie wehrte sich nicht, als er sie wortlos
in die Arme nahm. Schluchzend lehnte sie ihr tränenüberströmtes
Gesicht an seine Brust und überließ sich ihm willenlos,
ließ es zu, dass seine Hände zärtlich tröstend
über ihr Haar und ihren Rücken strichen. Es tat so gut! Und
sie gestattete ihren Tränen, so lange zu fließen, bis sie
glaubte, keine Tränen mehr zu haben. Wenn sie ihm doch nur sagen
könnte, was sie ängstigte, doch sie war durch ihr Wort
gebunden. Er ließ sie gewähren, hielt sie lange Zeit in
seinen Armen und fragte sie weder nach dem Grund ihrer Verstörung
noch forderte er sie auf, sich zusammenzunehmen.
Sie
wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als dass er
sie immer so festhalten möge. Es fühlte sich an, als wäre
es schon immer so gewesen. Die Last, die sie zu ersticken drohte, war
nur in seinen Armen zu ertragen. Doch dann glaubte sie, ihm endlich
die Dinge erklären zu müssen. Als sie ihm deshalb ihr
Gesicht zuwandte und zum Sprechen ansetzte, legte er ihr jedoch
leicht seinen Finger auf die Lippen und sah sie an mit einem Blick
voller Zuneigung, Liebe und Mitgefühl. Sie wusste sich
uneingeschränkt aufgehoben und geborgen bei ihm. Es bedurfte
keiner Erklärungen. Getröstet schloss sie die Augen und
spürte im selben Moment, wie er seine Lippen auf die ihren
senkte und sie sanft küsste.
Sie
kostete diesen Moment staunend aus, versank rettungslos in einer Woge
der Seligkeit. Doch dann setzte mit einem neuen Schock ihr Verstand
und damit die Realität wieder ein.
» Nein!«
Sie schrie es fast. Dieser Kuss hatte alles nur noch schlimmer
gemacht! Keine Sekunde konnte sie mehr bleiben! Sie hatte sich gehen
lassen, hatte einen verheirateten Mann geküsst, ja, ihn mit
ihrer haltlosen Schwäche geradezu verführt. Das hätte
auf keinen Fall passieren dürfen! Sie spürte, wie eine noch
größere Angst sie überfiel. Entsetzt wand sie sich
aus seiner Umarmung und floh aus dem Raum. Sie hörte, wie er ihr
etwas nachrief, wollte es nicht hören, hielt sich im Laufen die
Ohren zu und rannte in kopfloser Furcht davon.
Zurück
blieb John Battingfield, beschämt und über sich selbst
entsetzt. Was um alles in der Welt hatte ihn nur dazu getrieben, sein
Versprechen zu brechen? Walter hatte recht gehabt: In dem Augenblick,
als er sie küsste, schwand der Zauber des Vertrauens zwischen
ihnen. Folgerichtig war sie vor ihm geflohen.
» Verdammter
Narr!« Er hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, aber
es war ihm einfach unmöglich gewesen, sich noch zurückzuhalten.
Sie waren sich gerade zu nahe gekommen. Die nicht mehr zu
beherrschende Übermacht seiner Gefühle war ihm schließlich
zum Verhängnis geworden, obwohl er sich doch so fest vorgenommen
hatte, Charlotte nicht anzurühren. Nun erkannte er, dass er sie
damit von sich getrieben hatte und das in einem Moment, in dem sie
offenbar mehr denn je jemanden brauchte, der für sie da war und
sie beschützte. Wie konnte er sich diesen Fehler jemals
verzeihen? Wie konnte er sie so im Stich lassen, wo er sie doch nur
beschützen wollte?
» Aber
ich kann sie nicht so gehen lassen, ich muss es ihr erklären!«
In seiner Aufregung und Verwirrung über das Geschehene begann er
Selbstgespräche zu führen. Er kam sich fast vor wie ein
Verrückter. Doch vielleicht konnte er das Band des Vertrauens,
so das noch möglich war, wieder knüpfen. Er stürzte
aus der Bibliothek um ihr nachzulaufen, aber es war zu spät. Von
Charlotte war keine Spur zu finden. Er suchte im ganzen Haus, im
Lagerschuppen, begann schließlich die Dienstboten nach ihrem
Verbleib zu fragen, erntete aber nur erstaunte Blicke und bedauerndes
Verneinen. Keiner hatte bemerkt, wie sie das Haus verlassen hatte.
Schließlich fiel ihm der Tag ein, als er sie zum ersten Mal im
Millford Forrest getroffen hatte. Auch dort war sie nach einer harten
Auseinandersetzung mit ihrer Tante einfach in den Wald gelaufen.
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