Pflicht und Verlangen
aufstieg. Was brachte diesen Mann nur zu solch grässlicher
Entgleisung? War es ein Dämon, der ihn trieb? Kannte er kein
Mitgefühl, kein Erbarmen?
Charlotte
kamen seine Ausführungen über die Lust an der Jagd in den
Sinn. Mit Abscheu erinnerte sie sich daran, wie seine Augen zu
leuchten begannen und ein grausames Lächeln die Mundwinkel
seines ebenmäßigen, fast zu schönen Gesichts umspielt
hatte, als er vom Blutrausch der Kreatur sprach. War es denn möglich,
dass er beim Anblick von Grausamkeiten Lust empfand? War es das, was
ihn lockte? Ein eisiger Schauer der Furcht durchströmte sie,
wenn sie daran dachte, was sie erwartete. Wie konnte sie Terency nur
entrinnen? Sollte sie es wirklich wagen und Lady Millford über
den wahren, verderbten Charakter dieses Mannes aufklären?
Doch
dann zwang sie sich, sich auf das unmittelbar Notwendige zu
konzentrieren. Es war jetzt nicht die Zeit, diese Fragen länger
zu verfolgen. Jetzt ging es ausschließlich um Emmy, die
inzwischen mit ihrem Bündel in der Hand zögernd auf den
schmalen Flur des Gesindetrakts getreten war. »Komm, Emmy«,
sagte Charlotte sanft, »es ist Zeit zu gehen.« Das
verhärmte Kind nickte ergeben und stolperte hinter Charlotte den
Weg zurück zur Küche hinunter.
Nun
galt es, dem Kutscher eine glaubwürdige Geschichte zu erzählen
und ihn zu bitten, Emmy zum Pfarrhaus mitzunehmen. Charlotte glaubte
nicht, dass dies zu viele Probleme bereiten würde. Der Kutscher,
das hatte sie schon auf der Herfahrt bemerkt, war ein einfacher und
leutseliger Mann, der ihr sicher gerne den Dienst erwies. Die
richtige Begründung für die Abreise der Dienstmagd hatte
sie sich bereits zusammengereimt. Sie hatte eine kranke Verwandte
erfunden, die ihrer Hilfe bedurfte, was die sofortige Abreise des
Mädchens ausreichend begründete. Dr. Banning würde
weiterwissen. Die größere Schwierigkeit lag nun darin,
dass jemand gegenüber Lady Millford die Verantwortung für
das plötzliche Verschwinden der Dienstmagd übernehmen
musste. Dies war der Teil des Plans, der in den verbleibenden Minuten
noch mit Mrs Sooner geklärt werden musste. Wollte Charlotte sich
selbst schützen, dann musste sie Lady Millford über Terency
aufklären. Dies würde aber möglicherweise unangenehme
Konsequenzen für Mrs Sooner haben, da Lady Millford ihr
vielleicht vorwerfen würde, das Geschehene nicht eher gemeldet
zu haben. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass Mrs Sooner
behauptete, weder von der Vergewaltigung noch von der Schwangerschaft
gewusst zu haben und das Mädchen, als es ihr bekannt wurde,
umgehend fortgeschickt zu haben. Dies war der beste und einzig
mögliche Weg, überlegte Charlotte, obwohl er ihr ob der
Unaufrichtigkeit, die in der pragmatischen Lösung mitschwang,
zuwider war.
Als
sie mit Emmy eintraf, war der Kutscher gerade dabei aufzubrechen.
Schnell wurde das Anliegen vorgetragen und wie erwartet willigte der
Kutscher gutmütig ein, Emmy mitzunehmen. Mrs Sooner begleitete
das ängstlich dreinblickende Mädchen hinaus, während
Charlotte sich erschöpft auf die Küchenbank sinken ließ,
um einen Augenblick Ruhe zu finden.
Sie
hatte in der Nacht kaum geschlafen. Zu viele Gedanken, die
übermächtigen Gefühle für John, die Furcht vor
der Begegnung mit Terency und einer erneuten scharfen
Auseinandersetzung mit Lady Millford hatten sie umgetrieben. Zudem
begann sie zu frieren. Sie fühlte sich müde, zerschlagen
und geschwächt. Die Erinnerung an Johns liebevolle und so
unendlich tröstliche Umarmung in der Bibliothek holte sie wieder
ein, während sie mit geschlossenen Augen die Stille auskostete.
Für einen Augenblick sehnte sie sich so sehr nach seiner
zärtlichen Wärme, dass sie vermeinte, seinen Atem an ihrer
Wange zu spüren. Doch dann zwang sie sich dazu, in die Realität
zurückzukehren. Dies war Vergangenheit und musste, so süß
die Erinnerung auch war, für immer verschlossen bleiben.
» Miss
Millford, fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Mrs Sooner
besorgt, die wieder eingetreten war und sich nun über ihre junge
Herrin beugte.
» Ach,
es ist nichts, Mrs Sooner. Vielleicht eine kleine Erkältung. Ein
Tee würde mir sicher gut tun.« Charlotte öffnete die
Augen und sah die Köchin mit einem zuversichtlichen Lächeln
an, zu dem sie sich zwingen musste. Es war ihr keineswegs zum Lächeln
zumute angesichts der Dinge, die noch vor ihr lagen.
» Aber
sicher, Miss Millford, ruhen Sie sich nur einen Augenblick aus. Ich
mache Ihnen gleich einen schönen
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