Pflicht und Verlangen
dünnen, pergamentenen Haut. Charlotte kannte
diesen Anblick seit der Typhusepidemie nur zu gut. Es war der nahe
Tod, der sich auf dem vertrauten Gesicht abzeichnete. Sir Alistair
blieb nur noch wenig Zeit auf Erden. Betroffen eilte sie an sein Bett
und ergriff seine schlaffe Hand.
» Guten
Tag, Onkel!«, sagte sie sanft und unterdrückte dabei ihre
Tränen, so gut es ihr möglich war. Er tat ihr unendlich
leid und sie schämte sich dafür, so lange ihren eigenen
Wegen gefolgt zu sein. Mühsam wendete der todkranke Mann sich
ihr zu. Doch als er sie erkannte, lächelte er glücklich:
»Charlotte, mein Kind, endlich! Ich dachte schon, du hättest
mich ganz vergessen. Ich hoffe, du hattest eine schöne Zeit auf
Dullham Manor und hast das Ziel deiner Bemühungen erreicht.«
Sie dankte ihm für seine Frage, vermied aber eine Antwort. Was
hätte sie auch sagen sollen? Dass sie Dullham schon jetzt
furchtbar vermisste, und ganz besonders einen Menschen dort? Dass sie
ihre Arbeit schweren Herzens hatte zurücklassen müssen und
dass sie nie wieder nach Dullham zurückkehren konnte? All das
musste unausgesprochen bleiben. Stattdessen erkundigte sie sich
mitfühlend nach dem Befinden ihres Onkels.
» Du
siehst ja, wie es um mich steht. Obwohl es mir keiner sagen will,
weiß ich sehr gut, dass ich bald gehen muss«, bemerkte
dieser schlicht und mit entwaffnender Offenheit. »Ich bin so
froh, dich noch einmal sehen zu können.«
Charlotte
konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Doch es lag ihr
fern, ihn ebenfalls über seinen Zustand zu belügen. Sie
wusste so gut wie er selbst, dass sein Tod nahe war.
» Ich
weiß, Onkel! Ich kann es auch sehen, dass Sie bald zu Gott
gehen werden«, sagte sie deshalb und bemühte sich, ihre
Fassung wiederzugewinnen, »ich will in der verbleibenden Zeit
noch bei Ihnen sein. Vielleicht bleiben uns doch noch einige Wochen?«
» Ja,
vielleicht, mein Kind. Es wäre schön, wenn noch etwas Zeit
bliebe, ich würde gerne noch einmal die Wiesen von Millford Hall
blühen sehen.«
» Bestimmt
werden Sie das, Onkel! Aber nun müssen Sie sich ausruhen! Ich
werde hier bei Ihnen am Bett wachen.«
Sir
Alistair lächelte in kindlicher Dankbarkeit, sank wieder in sein
Kissen zurück und schloss die Augen. Kurze Zeit später
atmete er regelmäßig, aber erschreckend flach. Charlotte
verstand nun sehr gut, warum Lady Millford um jeden Preis auf eine
schnelle Verheiratung drängte. Die Chance, sie davon auch durch
noch so gute Gründe abzubringen, schwand dahin wie Sir Alistairs
Lebenszeit. Während Charlotte so am Bett ihres schlafenden
Verwandten saß und seine Hand hielt, zermarterte sie sich das
Hirn, wie sie aus dieser Zwangslage entkommen konnte, aber sie fand
keinen Ausweg. Die Tatsache, dass sie jung, mittellos und überdies
eine Frau war, raubte ihr so gut wie jede Aussicht, selbst ihr
Schicksal in die Hand zu nehmen.
Kapitel
24
» Tante,
Sie müssen mir glauben! Mrs Sooner hat Ihnen die Wahrheit
gesagt. Emmy konnte nichts dafür! Mr Terency hat ihr Gewalt
angetan.« Charlotte wusste längst, dass es aussichtslos
war, Lady Millford von der Wahrheit zu überzeugen. Diese wollte
die Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen, da sie ihre sorgsam
gesponnenen Netze behinderten, ja, die hochfliegenden Pläne
geradezu vernichteten.
Eben
hatte Mrs Sooner das Arbeitszimmer verlassen, nachdem sie ihrer
Herrin den Grund für das plötzliche Verschwinden des
Dienstmädchens geschildert hatte. Sie hatte dabei auch Charlotte
als Zeugin genannt, da sie hoffte, ihrer Schilderung der Ereignisse
so mehr Gewicht geben zu können. Das Gegenteil war der Fall
gewesen. Lady Millford hatte Mrs Sooner mit eisigem Blick aus dem
Zimmer gewiesen und sich dann in einer lautstarken Tirade über
die Ungehörigkeit der Verbrüderung mit dem Personal
ergangen.
Charlotte
wunderte sich selbst darüber, dass sie dabei so ruhig bleiben
konnte. Eigentlich hätte sie verzweifelt sein müssen, aber
sie hatte niemals wirklich damit gerechnet, bei ihrer Tante auf
Verständnis zu treffen. Als Lady Millford schließlich zum
Ende gekommen war, hatte sie deshalb – eigentlich nur, um ihren
Standpunkt noch einmal deutlich zu machen – einen letzten
Versuch unternommen. Die Antwort Lady Millfords entsprach ihrer
Erwartung.
» Charlotte,
ich will von diesen Verleumdungen von Mr Terencys Ehrenhaftigkeit
nichts mehr hören. Diese Behauptungen sind abstrus. Vermutlich
hat sich das leichtfertige Ding diese Sache nur ausgedacht, um
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