Pflicht und Verlangen
aber Dr.
Banning versprach …«
Lady
Millford unterbrach sie unwirsch: »Ich will nichts mehr davon
hören! Das ist lächerlich und obendrein reine
Zeitverschwendung. Dieser Dr. Banning verspricht viel und hält
wenig. Deine Pflichten warten hier auf Millford Hall!«,
erklärte sie kategorisch und keinen Einwand mehr duldend. »Ich
erwarte, dass du dich umziehst und dann deine Aufwartung bei deinem
kranken Onkel machst. Du kannst dich jetzt entfernen.«
Es
war kein Wort von einem gemeinsamen Frühstück gefallen.
Charlotte nahm ergeben hin, dass sie zunächst nichts zu essen
bekommen würde. Es war auch nicht wichtig, da sie ohnehin eine
aufsteigende Übelkeit verspürte, die ihr den Appetit
verdarb. Jedoch war es unbedingt notwendig, dass sie Lady Millford
noch einmal zu einem weiteren Gespräch mit äußerst
unangenehmem Inhalt aufsuchte. Vorsichtig versuchte sie, diesen
Anspruch geltend zu machen. Die Audienz wurde ihr gewährt, da
wegen des angekündigten Besuchs ohnehin noch einiges zu
besprechen sei. Lady Millford erwartete Charlotte pünktlich um
elf Uhr im Arbeitszimmer von Sir Alistair zu sprechen. Charlotte
bedankte sich und verließ mit einem Aufatmen den Raum. Die
erste Hürde war genommen.
Als
sie sich auf den Weg in ihr Zimmer machte, wurde ihr schwindelig und
sie musste sich an der Wand abstützen. Ärgerlich ermahnte
sie sich selbst. Sie durfte jetzt auf keinen Fall Schwäche
zeigen.
Ihr
weniges Gepäck war bereits nach oben gebracht worden, sodass sie
sich schnell umziehen konnte. Sie wollte ihren Onkel nicht zu lange
warten lassen, ihm gegenüber hatte sie tatsächlich ein
schlechtes Gewissen. Sie hatte sich über fünf Wochen in
Dullham Manor aufgehalten und in dieser Zeit kaum an ihn gedacht,
geschweige denn ihn besucht. Allerdings erschien ihr Millford Hall
auch in keiner Weise als Heim, mehr wie Feindesland, in dem es sich
zu bewähren galt. War es da ein Wunder, dass sie während
dieser ganzen Zeit kein Verlangen danach gehabt hatte,
zurückzukehren?
Überhaupt
fragte sich Charlotte, wie ihr weiterer Lebensweg aussehen sollte.
Selbst wenn es ihr gelang, ihre Tante von ihrem Fehlgriff bei der
Wahl Terencys als möglichem Schwiegersohn zu überzeugen, so
waren doch die weiteren Aussichten ihres Verbleibs auf Millford Hall
nicht eben rosig. Wenn Sir Alistair starb, würde sie vielleicht
mit Lady Millford hier leben müssen, die in ihr nichts weiter
als ein Faustpfand sah, das es galt, möglichst schnell
gewinnbringend zu verkaufen. Wahrscheinlich aber würde sie mit
ihr in weitaus bescheidenere Verhältnisse umziehen müssen.
Durch die Adoption war sie an ihre Tante gebunden, zumindest so
lange, bis sie eine Anstellung fand, mit der sie ihren
Lebensunterhalt bestreiten konnte. Der einzige Trost bei dieser
Aussicht bestand darin, dass Lady Millford in diesem Fall sicher
selbst das allergrößte Interesse hätte, sie
loszuwerden und ihr somit hinsichtlich einer Anstellung als
Gouvernante oder Musiklehrerin keine Steine in den Weg legen würde.
Sie hoffte allerdings sehr, dass es Dr. Banning wirklich gelang, den
Nachlass ihres Vaters gewinnbringend zu verkaufen und ihr somit
wenigstens ein bescheidenes Auskommen für den Anfang zu
verschaffen. Dann, so überlegte sie, würde sich ihre
Situation entscheidend verbessern. Denn dann stand es ihr frei, sich
irgendwo in England, wo sie keiner kannte, niederzulassen.
Schließlich war sie inzwischen volljährig und konnte im
Falle des frühzeitigen Todes ihres Onkels selbst die notwendigen
Entscheidungen treffen und für ihr Auskommen sorgen. Auf die
Unterstützung ihrer Tante würde sie sicher nicht zählen
können. Dieser Plan mochte vielleicht etwas unbotmäßig
wirken, aber er erschien ihr als einzig gangbarer Weg. Möglicherweise
waren Bath, Brighton (32) oder gar London geeignetere Orte.
Vielleicht konnte sie dort als Klavierlehrerin arbeiten und so selbst
für sich sorgen. Besonders Bath würde sich als schnell
aufstrebender Kur- und Badeort von Weltrang sicher hervorragend dazu
eignen.
Dieser
Gedanke gab ihr etwas Hoffnung. Gewappnet mit neuer Kraft machte sie
sich auf den Weg in die Privatgemächer ihres Onkels und
bereitete sich auf die Begegnung mit dem Todkranken vor. Dennoch war
es ein Schock für sie, als sie sein Zimmer betrat.
Sir
Alistair war erschreckend abgemagert und wirkte wie ein Greis. Die
Augen lagen tief und dunkel in den Höhlen, während das
wächserne Gesicht, aus dem eine spitze Nase ragte, überspannt
wurde von einer
Weitere Kostenlose Bücher