Pflicht und Verlangen
nun wirklich nicht in
ihrem Interesse liegen – oder doch? Charlotte war so
durcheinander, dass sie nicht mehr wusste, was sie davon halten
sollte. Auch die heftigen Kopfschmerzen, die wieder eingesetzt
hatten, verhinderten weitere klare Überlegungen. Doch es ließ
ihr keine Ruhe, sie musste es wissen. Zumindest der Verdacht eines
vorgeschobenen Anfalls von Sir Alistair würde sich leicht
ausräumen lassen. Obwohl Charlotte sich nicht sicher war, ob sie
noch genügend Kraft für weitere Nachforschungen aufbringen
konnte, bat sie Ruby, nach dem Kranken zu schauen und ihr dann
Bericht zu erstatten.
Sobald
Ruby das Zimmer verlassen hatte, quälte sie sich erneut aus dem
Bett und schloss die Zimmertür von innen ab. Solange ihr
Widersacher noch im Hause war, fühlte sie sich nur hinter
verriegelten Türen wirklich sicher. Sie würde Mrs Sooner
bitten müssen, auch die anderen Dienstboten insofern
einzuweihen, dass sie mit Terency, zumindest solange er sich in
Millford Hall aufhielt, nie mehr solchermaßen in eine
gefährliche unbeobachtete Situation kam. Die Rücksichtslosigkeit
und kriminelle Energie dieses Mannes erschütterte sie zutiefst.
Charlotte konnte sich kaum vorstellen, dass niemand in der guten
Gesellschaft von seinen ekelhaften und verbrecherischen
Leidenschaften wusste, so offen wie er sie auslebte. War vielleicht
ein ähnlicher Vorfall der Grund für seine lange Abwesenheit
gewesen? War er möglicherweise sogar schon mit dem Gesetz in
Konflikt gekommen und nur aufgrund seiner hohen Geburt einer
entsprechenden Strafverfolgung entkommen? Das wäre immerhin
denkbar. Warum sonst hatte er so seltsam verschlossen reagiert, als
sie ihn auf den Grund seiner langen Reise ansprach? Das entsprach so
gar nicht seinem sonst recht aufschneiderischen Charakter.
Erschöpft
lehnte sich Charlotte von innen an die Tür. Sie würde es
nicht schaffen, erneut aus dem Bett aufzustehen, wenn Ruby zurückkam.
Es war besser, sie wartete hier, sie musste sich nur ein wenig
hinsetzen. Erneut überkam sie Übelkeit und Schwindel. Sie
ließ sich ermattet auf den Boden gleiten und kauerte sich dort
zitternd zusammen. Obwohl sie inzwischen fürchtete, sich eine
ernstere Krankheit zugezogen zu haben, war sie auch erleichtert, dass
es ihr diese willkommene Fügung ermöglichte, sich des
Umgangs mit Terency zu entziehen. Er hatte ja gesehen, dass sie
wirklich krank war und würde es sogar gegenüber ihrer Tante
bezeugen, was ein wahres Glück war. So lange sie ihr Zimmer
nicht verließ, konnte ihr nichts geschehen und sie gedachte,
sich hier wie in einer Burg zu verschanzen, bis der Feind die
Belagerung aufgegeben hatte.
Bald
hörte sie leichte Schritte auf dem Flur und dann ein zaghaftes
Klopfen. »Miss Millford? Ich bin’s, Ruby!«
Charlotte rappelte sich mühsam hoch und schloss die Tür
auf. Die Dienstmagd reagierte erstaunt auf ihre Vorsichtsmaßnahme,
sagte aber nichts. Charlotte hatte auch nicht mehr die Kraft, es ihr
zu erklären. Das Zimmer begann sich zu drehen und ihre Knie
versagten ihr den Dienst. Hätte Ruby sie nicht aufgefangen, wäre
sie der Länge nach auf den Boden geschlagen.
» Miss
Millford, Sie müssen wirklich ins Bett. Sie glühen ja! Der
Arzt ist gerade ins Haus gekommen, obwohl es Sir Alistair nun doch
schon wieder besser geht. Dem Himmel sei Dank! Ich werde Dr.
Trevelyan bitten, dass er noch nach Ihnen sieht. Es geht Ihnen ja
bald schlechter als dem alten Herrn, Miss!«
Also
doch keine Inszenierung!, ging es Charlotte wirr durch den Sinn, der
ihr mehr und mehr den Dienst verweigerte. Wenigstens dieser
entsetzliche Verdacht hatte sich in Luft aufgelöst.
Sie
kroch mit Rubys Hilfe zurück auf ihr Lager und betete, dass sie
sich nun etwas Ruhe gönnen durfte. Sie hatte einfach alle ihre
Kraftreserven aufgebraucht. Mehr konnte sie nicht mehr
bewerkstelligen, es war zu viel.
Als
der Arzt einige Zeit später in Begleitung einer sehr unwirschen
Lady Millford eintrat, war sie bereits in einen fiebrigen, unruhigen
Schlaf gesunken. So hörte sie auch nicht, dass der Mediziner der
jungen, völlig entkräfteten Patientin mit ernster Miene
mindestens eine Woche strengster Bettruhe verordnete und den
Anwesenden eindringlich empfahl, jede Aufregung von der Kranken
fernzuhalten. Er schrieb noch einige Anweisungen für den
Apotheker auf und bat darum, dass jemand von der Dienerschaft am Bett
der Patientin wache, bis das Fieber gesunken sei. Er wolle am
nächsten Tag wieder nach der jungen Dame sehen.
Lady
Millford nahm
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