Pflicht und Verlangen
Charlotte, die so ganz nach seinem
Herzen gewesen waren. Wie hatte er es genossen, mit ihr zu
diskutieren und dabei sowohl ihren Scharfsinn, wie ihren Humor
bewundert und auch ihre warmherzige Aufrichtigkeit geschätzt und
geliebt. Das wirklich Bedauerliche an seiner jetzigen Situation war,
dass er nun über ein Maß verfügte, mit dem er den
Wert seiner jetzigen Gespräche und Begegnungen mit der recht
betrüblichen Auswahl der Londoner Weiblichkeit vergleichen
konnte, und das Ergebnis war ernüchternd.
Wenigstens
hatte sich für den heutigen Tag sein Bruder David nebst seiner
von John sehr geschätzten Gattin und den Kindern zum Tee
angekündigt. Selbstverständlich hatte er seinem Bruder
sofort nach seiner Ankunft eine Nachricht zukommen lassen und freute
sich aufrichtig auf den Besuch seiner Verwandten. Vielleicht würde
er David auch bitten, ihn in einen der Clubs in London einzuführen,
obwohl er dem Glücksspiel, das dort allgemein exzessiv betrieben
wurde, wenig zugeneigt war und dies als sinnlosen Zeitvertreib
betrachtete. David besuchte, wie er wusste, regelmäßig und
schon aus beruflichen Gründen Brooks , einen der
wichtigsten Londoner Clubs, der glücklicherweise – wie
alle diese Etablissements – ein reines Männerrefugium war.
Man konnte gerade dort auch auf manchen interessanten und
einflussreichen Zeitgenossen treffen. Natürlich auch auf
unerträgliche Schwätzer und Nichtsnutze, aber er gedachte,
diesen aus dem Weg zu gehen. Neue politische und philosophische Ideen
wurden jedenfalls meist bei Brooks geboren und verhandelt. Das Beste
aber war, dass er dort nicht dem unerträglichen weiblichen
Geschwätz wie in Wellesley House ausgesetzt sein würde.
Nun
hieß es, den Rest des Tages zu überstehen und nicht
Gwendolyns Missfallen zu erregen, was unweigerlich einen hysterischen
Weinkrampf zur Folge haben würde. Ein Zustand, in den sie seit
einiger Zeit öfter verfiel. Er beschloss daher, sich nach einem
ausgiebigen Spaziergang in die Bibliothek zurückzuziehen und
sich dort der Lektüre eines Buches zu widmen.
******
Stunden
später trafen endlich David und seine Familie ein. Man begrüßte
sich herzlich. Die beiden älteren Kinder – die jüngeren
waren bei ihrer Kinderfrau geblieben – waren kurze Zeit später
mit ihren Vettern verschwunden und die Erwachsenen setzten sich nach
dem Austausch der üblichen Höflichkeiten an die reich
gedeckte Teetafel. Nach ausgiebigem Geplauder über die nichtigen
und wichtigen Neuigkeiten in Londons Gesellschaft wurde mit großer
Freude die Nachricht von der Schwangerschaft Lady Battingfields
aufgenommen und David unterließ es nicht, ihm heimlich
zuzuzwinkern, was John das wohl erste Lächeln an diesem Tag
entlockte. Dennoch blieb David Battingfield nicht verborgen, dass
sein geliebter älterer Bruder sich alles andere als wohlfühlte.
Als man sich vom Mahl erhoben und die Frauen sich wieder im Salon
ihren Gesprächen zugewandt hatten, nahm er diesen vertraulich
zur Seite und erkundigte sich ehrlich besorgt nach seinem Befinden.
Die Antwort war alarmierend. So niedergeschlagen hatte er den zwar
für gewöhnlich eher nachdenklichen, aber dennoch überaus
lebensfrohen und auch leidenschaftlichen Bruder selten erlebt. Er
hatte gehofft, dass die Schwangerschaft seiner Schwägerin die
Spannungen zwischen den Eheleuten etwas verbessert hätte, aber
das Gegenteil schien der Fall zu sein. John wirkte wie ein gefangener
Löwe im Käfig und genau das traf ja im Grunde auch zu. Der
Aufenthalt in Wellesley House mit allen damit verbundenen nichtigen
gesellschaftlichen Konventionen war etwas, was seinem Bruder zutiefst
zuwider war, soviel stand fest. Und Lady Battingfield hatte bereits
beim Tee anklingen lassen, dass sie ihre gesamte Schwangerschaft –
schon allein wegen der Nähe zum Arzt ihres Vertrauens – in
London zu verbringen gedachte. Vielleicht würde man ganz hierher
übersiedeln, hatte sie angefügt, was John mit regloser
Miene unkommentiert gelassen hatte.
» Du
wirst die ganze Zeit mit Gwendolyn hier in London verbringen, bis sie
niederkommt?«, fragte David deshalb etwas ungläubig.
» Ich
hatte es mir vorgenommen, aber ich muss gestehen, dass ich dieses
Vorhaben vermutlich nicht in die Tat umsetzen kann«, erwiderte
John. »Ich kann es einfach nicht ertragen, hier herumzusitzen
in Müßiggang. Allerdings ist es aussichtslos, Gwendolyn
dazu zu überreden, nach Dullham Manor zurückzukehren. Ich
fürchte, sie wird nie mehr dorthin wollen. Sie hasst
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