Pflicht und Verlangen
ihm
gerichtet, stob John nun auf seinem Tier voran. Jeder andere Gedanke
war aus seinem Kopf verbannt. Er musste es schaffen!
Schon
erreichte der Hengst die ersten Bäume auf der Hügelkuppe.
John trieb sein Pferd, das bereits heftig keuchte und dem Schaum vom
Maul troff, zu noch größerer Eile an. Und wenn er es
zuschanden ritt, es war ihm gleich!
Auch
er passierte jetzt die Baumgrenze − nur noch fünfzig
Yards. Charlotte hatte in ihrer Angst begonnen, um Hilfe zu rufen,
was das Tier noch panischer machte, als es ohnehin schon war, aber
seinen rasenden Lauf zumindest verlangsamte, da es begann, wild den
Kopf zu werfen und zu tänzeln. Gleich würde er es geschafft
haben. Schon sah John die Kante des jäh abfallenden Steinbruchs.
Es ging um Sekunden! Er beugte sich zur Seite, streckte die Hand aus,
um die lose schleifenden Zügel des schwarzen Hengstes zu
ergreifen. Da machte das tobende Pferd, das ihn hatte heranjagen
sehen, einen Satz hin zur Kante des Steinbruchs, stieg und schlug mit
den Hufen nach dem vermeintlichen Angreifer. Charlotte schrie gellend
auf und stürzte, sich überschlagend, vom Rücken des
sich aufbäumenden Pferdes. Ihr Körper schlug hart auf den
Felsen auf und verschwand dann jenseits des Abbruchs.
Einen
kurzen gnädigen Moment lang weigerte sich Johns Verstand zu
akzeptieren, was seine Augen sahen, doch dann brach es aus ihm heraus
in einem wilden, unartikulierten Schrei des Entsetzens. Es war zu
spät!
Kapitel
34
John
wusste auch später nicht zu berichten, wie er von seinem Pferd
hinunter und an die Abbruchkante des alten Steinbruchs gelangt war,
vorbei an dem außer sich geratenen Hengst, der kurz danach
davonstob. Jene Momente des völligen Schocks über das
Geschehene entzogen sich seiner Erinnerung. Diese setzte erst wieder
ein, als er über die Felskante spähte und nicht den
entsetzlichen Anblick vorfand, den er erwartet hatte. Charlottes
Körper lag nicht völlig zerschmettert und blutend am Boden
des etwa vierzig Yards tiefen Abgrunds, sondern war auf einem nicht
allzu weit von ihm entfernten, schmalen Absatz zu liegen gekommen. Er
konnte zu ihr hinuntersteigen, es waren weniger als zwei
Manneslängen. Vielleicht − so glomm ein kleiner Funken
Hoffnung in ihm auf − lebte sie noch, obwohl sie sich nicht
rührte und auch auf seine Rufe nicht reagierte.
Sie
lag mit dem Gesicht nach unten auf dem mit Geröll und kleineren
Felsbrocken übersäten schmalen Sims. Mit einem schnellen
Griff überprüfte er ihren Puls, als er sie erreichte und
stellte zu seiner unendlichen Erleichterung fest, dass ihr Herz zwar
schwach, aber regelmäßig schlug. Er rief sie wieder beim
Namen, doch sie antwortete nicht. Vorsichtig drehte John die
Bewusstlose auf den Rücken und erschrak bis ins Mark. Ihr
bleiches Gesicht war durch eine klaffende tiefe Wunde an der rechten
Schläfe blutüberströmt, und auch auf ihrem Reitrock
bildete sich ein schnell größer werdender Blutfleck. Der
so kostbare Lebenssaft schien an einer Beinwunde stoßweise mit
dem Herzschlag auszutreten. Schnell schlug er den Rock etwas zurück
und sah mit Schrecken das Ausmaß der Verletzung. Der besseren
Bequemlichkeit im Damensattel wegen trug sie, wie manch andere
Reiterinnen, nur bis deutlich über die Knöchel reichende
Stiefeletten. Mit den Reitstiefeln, die Männer trugen, wäre
die Verletzung vielleicht nicht ganz so schlimm ausgefallen. So aber
war der linke Unterschenkel völlig zertrümmert. Teile der
gebrochenen Knochen hatten das Fleisch durchstoßen und staken
grausig aus den Wunden. Dabei musste ein wichtiges Blutgefäß
verletzt worden sein, denn aus einer der größeren Wunden
schoss ungehindert das Blut in erschreckender Schnelligkeit. Wenn er
dem nicht sofort Einhalt gebot, würde sie in kürzester Zeit
verbluten.
Aus
seiner Erfahrung mit Kriegsverletzungen heraus wusste John, was zu
tun war. Es ging darum, das Bein abzubinden und die Blutung mit einer
Aderpresse zu stillen. Doch wie das bewerkstelligen? Kurz
entschlossen zerriss er ihren Unterrock und zerteilte ihn in
Streifen. Dann wickelte er zwei der provisorischen Binden zu einem
festen Knäuel, das er mit den restlichen Stofffetzen fest auf
die Stelle band, aus der das meiste Blut auszutreten schien. Schnell
färbten sich die behelfsmäßigen Verbände
ebenfalls rot. Es bedurfte noch zweier weiterer, mit roher Gewalt
verschnürter Streifen, um die Blutung zu stoppen.
Plötzlich
hörte er Hufschläge, gefolgt von Jenkins’ Ruf.
Gott
sei Dank kam er
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