Pflicht und Verlangen
Lippen und
sagte nach einem beklemmenden Moment des Schweigens: » John,
ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe Miss Brandon für
die Stiftungsverwaltung einen jungen Anwalt empfohlen, einen Mr
Alexander Plummer. Wirklich ein famoser und recht stattlicher junger
Mann, auch sehr ambitioniert. Ich denke, sie werden inzwischen
geheiratet haben. Immerhin warst du lange fort und deine Rückkehr
mehr als ungewiss.« Unsicher sah er seinen Bruder an. Von
diesem kam kein Wort. Stille lastete zwischen ihnen. Verzweifelt
flüchtete sich David in weitere Erklärungen und wusste
gleichzeitig nur zu gut, dass diese Nachricht seinen Bruder nahezu
vernichtete: »Weißt du, John, sie ist trotz der
Behinderung eine ungemein anziehende Frau. Ich glaube, die meisten
Männer wären von ihr beeindruckt …«, die Worte
versagten ihm endgültig.
Sein
Bruder war noch blasser geworden und starrte ihn an. »Du meinst
tatsächlich, dass sie verheiratet ist? Dass sie wirklich diesen
Plummer genommen hat …?«, fragte er tonlos.
David
sah seinen Bruder mitfühlend an, sagte aber nichts. Was sollte
er auch sagen? Er fühlte sich geradezu schuldig.
Einen
Augenblick lang glaubte er, John würde nun in hemmungsloses
Schluchzen ausbrechen, aber nichts dergleichen geschah. Dieser blieb
einfach weiterhin stumm und starrte vor sich hin, was viel schlimmer
war. Dann sagte John leise: »Sie hat ihre Wahl getroffen, ich
muss es akzeptieren.« Er rang nach Luft und senkte den Kopf,
ergeben, aller Kraft beraubt. Achtlos entfaltete er die Einladung nun
völlig.
» John,
es tut mir so unendlich leid. Ich weiß nicht, was ich sagen
soll!« David war aufgestanden und wollte zu seinem Bruder
hinübergehen, da schrie dieser plötzlich auf.
Er
verliert den Verstand, dachte David entsetzt, denn John war
unversehens in ein heftiges Lachen ausgebrochen, sprang, die
schicksalhafte Einladung in der Hand haltend, auf, packte David beim
Schopf und drückte ihm einen festen Kuss auf die Stirn. Dann
rannte er zur Tür hinaus. Die Einladung flatterte hinter ihm auf
das dunkle Parkett des Arbeitszimmers. David hob sie auf. Da sah er,
dass noch etwas auf dem unteren Teil des Blattes stand.
Es
spielt
das
Vauxhall Chambers Orchestra
Am
Klavier
Miss
Charlotte Elisa Brandon
Kapitel
44
Als
John eintraf, war das Konzert schon in vollem Gange. Die Vorhalle des
Queens Theatre, obwohl hell erleuchtet, war wie ausgestorben. Leise
öffnete er die Tür zum Parkett und trat ein. Der Raum war
nahezu überfüllt. Alle Plätze waren belegt und selbst
an den Wänden und oben in den Logen standen noch Gäste und
lauschten der musikalischen Darbietung. John stellte sich in den
Schatten einer der Marmorsäulen des großen Saales und
richtete seine Aufmerksamkeit auf die Konzertbühne. Ein makellos
aufspielendes Kammerorchester mit acht Musikern saß in
gefälliger halbkreisförmiger Anordnung um die Solistin des
Abends herum, die mit den perlenden Läufen und berauschenden
Akkordfolgen, die sie ihrem Instrument entlockte, das Publikum völlig
in seinen Bann zog.
John
Battingfield erging es nicht anders. Er konnte den Blick nicht von
ihr abwenden. Konzentriert und mit geschlossenen Augen hatte sie das
Haupt geneigt, ganz in ihre Darbietung vertieft. Ihr dunkles, im
Nacken weich zusammengenommenes Haar schimmerte im Kerzenschein und
hob sich wunderbar von der alabasternen Helligkeit ihrer Wangen ab.
Sie war in ein schlichtes, aus fließender Seide gefertigtes
weißes Gewand gekleidet und schien in ihrer Zierlichkeit und
Anmut einem Feenreich entsprungen zu sein.
Eben
noch war er voller Ungeduld durch die Straßen Londons gejagt,
getrieben von dem sehnlichen Wunsch, die Frau, die er liebte, endlich
in die Arme schließen zu können. So lange hatte er darauf
gewartet und in der starrenden Kälte des erbarmungslosen Eises,
in aller Plackerei und Entbehrung der letzten Monate, nur an eines
gedacht: ihr nahe zu sein. Doch nun, da es soweit war, sank ihm der
Mut. Würde sie ihn wieder von sich weisen? Wie sollte er ihr
sagen, dass der Weg nun frei war für ihr gemeinsames Leben?
Würde sie nun endlich Ja sagen? Liebte sie ihn denn überhaupt
noch, da sie doch so lange ohne eine Nachricht von ihm gewesen war?
Da
erhob sich donnernder Applaus. Das Konzert war beendet. Er hatte es
kaum noch wahrgenommen. Wie im Traum sah er, wie sich die Musikanten
und schließlich auch Charlotte, mit einer Hand auf ihr
Instrument gestützt, vor dem Publikum verbeugten, wie die
Musiker, als
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