Pflicht und Verlangen
sich die Gäste längst an ihm vorbei in die
Vorhalle zum zweiten Teil des Abends zurückgezogen hatten, sich
einer nach dem anderen von ihr verabschiedeten.
Charlotte
saß noch an ihrem Flügel und ordnete ihre Noten. Sie hatte
es wohl absichtlich vermeiden wollen, ihre Behinderung vor aller
Augen sichtbar werden zu lassen. Nun stand sie auf, griff nach dem
Notenstapel und schickte sich an, ebenfalls den Saal zu verlassen.
Sie hatte ihn nicht gesehen.
» Charlotte?«,
sagte er leise.
Abrupt
hielt sie inne. Die Notenblätter entglitten ihren Händen,
sie wandte sich halb zu ihm um und sah ihn ungläubig staunend
an. Der stützende Stock fiel mit lautem Krachen zu Boden, sie
schwankte und streckte verlangend die Arme nach ihm aus. Da lief er,
rannte zu ihr, schloss sie in die Arme und küsste sie, liebend,
hungrig, verzehrend. Und sie gab ihm, nach was es ihn verlangte, ohne
Vorbehalte, ohne Scheu. Wie hatte er je an ihrer Liebe zweifeln
können?
» Wirst
du nun die Meine?«, fragte er endlich und sah sie forschend an.
» Ich
war es doch schon immer, John, weißt du das nicht?«, sie
küsste ihn wieder zärtlich auf den Mund.
» Du
schickst mich nicht mehr fort?«
» Nie
mehr! Und wenn du wieder ans Ende der Welt segeln willst, dann gehe
ich mit dir und nichts und niemand wird mich aufhalten, nicht einmal
ein Holzbein!«
Er
lächelte glücklich. »In diesem Fall, Miss Charlotte
Elisa Brandon, gehe ich davon aus, dass Sie meine Frau werden
wollen!«
» Das
entspräche zutiefst meinem Verlangen, Captain Battingfield«,
war ihre Antwort, die er so ersehnt hatte.
Voll
von glücklichem Übermut hob er sie auf seine Arme und
drehte sich mit ihr im Kreis. Sie war keine Last, würde es nie
sein. Doch dann hielt er inne: »Und eure Gäste?«,
fragte er zweifelnd.
» John,
Liebster, ich glaube, wir haben beide nun so sehr unserer Pflicht
Genüge getan, dass wir für dieses eine Mal unserem
Verlangen nachgeben dürfen. Denkst du nicht auch?«, meinte
sie lächelnd. Dann schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und
schmiegte sich zärtlich an ihn.
» Ja«,
sagte er, »da magst du wirklich recht haben.«
Und
obwohl sich das erlauchte Publikum an diesem Abend wunderte, dass die
Stifterin sich nicht mehr zu ihnen gesellte, obwohl man aufgeregt
darüber spekulierte, wer wohl der gutaussehende Gentleman
gewesen sei, der die reizende Miss Charlotte Brandon auf seinen Armen
aus dem Theater getragen hatte und obwohl trotz dieses ungewöhnlichen
Vorfalls auch diesmal die Spenden reichlich flossen, gab es zwei
pflichtvergessene, überglückliche und sehr verliebte
Menschen, denen all dies für dieses eine Mal herzlich egal war.
Epilog
Dullham
Manor, 20 November 1820
Lieber
Dr. Williams,
nun
komme ich endlich dazu, Ihnen zu schreiben. Sicher haben Sie schon
sehr auf Nachricht gewartet und ich bin auch sehr beschämt
darüber, dass wir in den letzten Monaten nichts von uns haben
hören lassen. Aber die Zeit eilt dahin, wenn man so glücklich
ist wie wir es sind.
Charlotte
lässt Ihnen ihre wärmsten Grüße zukommen und
hofft inständig, Sie sehr bald bei uns begrüßen zu
können. Sie machen doch nun endlich Ihr Versprechen wahr und
besuchen uns hier mit Ihrer Gattin? Dann können Sie sich von
Charlotte auch über die neue Prothese berichten lassen, die Sie
ihr zukommen ließen. Um es vorwegzunehmen: sie ist
überglücklich damit. Da ist Ihnen wirklich ein Meisterstück
gelungen! Charlotte kann nun endlich auf den ihr so lästigen
Stock verzichten und sogar wieder etwas spazieren gehen, was sie sehr
vermisst hatte in den Jahren seit ihrem Unfall. Sie geht so gern
spazieren an der frischen Luft! Unsere kleine Gwennyver ist aber
dennoch bald zu schnell für sie und springt fröhlich durch
unseren Park. Die Kleine hat in Charlotte eine liebevolle Mutter
gefunden und zeigt großes Interesse an allem, was ihr begegnet.
Sie ist unsere ganze Freude.
Vorigen
Monat kehrten wir aus London zurück, wo wir uns immer wieder für
einige Wochen aufhalten, damit Charlotte ihren Aufgaben beim British
Museum und bei der Stiftung nachgehen kann, obwohl Mary und Alexander
diese bestens führen. Diesmal werden wir aber wohl länger
hier auf Dullham Manor bleiben, denn es gibt große Neuigkeiten:
Charlotte ist guter Hoffnung! Das Kind soll im Sommer zur Welt
kommen. Ich bete, dass alles gut geht! Die Vorstellung, sie
vielleicht zu verlieren, ist schrecklich für mich. Immerhin
starb meine erste Frau im Kindbett. Aber Charlotte will davon
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