Pflicht und Verlangen
Charlotte
wurde augenblicklich kalkweiß, als sie es bemerkte, und begann
zu zittern: »John?«, fragte sie tonlos.
Der
Anwalt schüttelte den Kopf: »Lady Gwendolyn
Battingfield!«, sagte er, »am Kindbettfieber gestorben
vor zwei Tagen. Die Beisetzung ist übermorgen in der
Familiengruft auf dem Stammsitz der Familie Wellesley.«
Mary
sank erschüttert auf einen Sessel. »Oh!«, sagte sie
leise.
Charlotte
wirkte wie zu einer marmornen Steinfigur erstarrt. Nach einer Weile
tiefen Schweigens brach es aus ihr heraus: »Das wollte ich
nicht! Gott steh mir bei, das wollte ich wirklich nicht!« Dann
hinkte sie mühsam in ihr Zimmer und schloss sich ein.
******
Stunden
später klopfte Mary vorsichtig an ihre Tür. Sie war nicht
mehr verschlossen. Leise trat sie ein und fand ihre Freundin auf dem
Bett liegend vor. Sie hatte geweint. Ihre Wangen und ihr Kissen waren
nass von Tränen. »Mary, ich schäme mich so!«,
flüsterte sie.
» Aber
Charlotte, es ist nicht deine Schuld! Es ist der Lauf der Dinge, der
unbegreifliche Ratschluss Gottes, wenn du es so nennen willst.
Natürlich ist es tragisch, aber doch ein Schicksal, das Frauen
leider allzu häufig erleiden.«
» Aber
ich habe ihr den Mann weggenommen!«, schluchzte Charlotte und
schlug die Hände vor das Gesicht.
» Nein,
das hast du eben nicht!«, erwiderte Mary sehr streng und zwang
ihre Freundin, sie anzusehen. »Ich will so etwas nie wieder
hören. Ganz im Gegenteil! Du liegst hier mit einem Holzbein,
weil du ihr den Mann eben lassen wolltest. Wenn sie ihn verloren hat,
dann deshalb, weil diese Ehe von Anfang an ein Fehler war. John
braucht dich und er liebt dich mit aller Zärtlichkeit, mit der
ein Mann nur lieben kann. Gwendolyn Battingfield hingegen hat er nie
geliebt und er hat in dieser Ehe gelitten, schon bevor er dich
kannte. Also überhäufe dich nicht mit Selbstvorwürfen,
sondern gönnt euch – wenn er zurückkommt und das wird
er! – das Glück eurer Liebe. Der Himmel hatte ein Einsehen
mit euch, ihr solltet es auch haben! Und jetzt stehst du auf und isst
etwas mit uns, sonst werde ich ernsthaft böse.«
» Was
würde ich nur ohne dich tun, meine liebe Mary«, sagte die
so Zurechtgewiesene nach einer langen Pause, in der sie die
energischen Worte Marys überdacht hatte und umschlang ihre
streng dreinblickende Freundin liebevoll, während ihr weiterhin
Tränen die Wangen hinunterliefen. Aber diesmal waren es nicht
Tränen der Scham.
******
Zur
Teezeit des 12. Dezember 1818 schritt ein Gentleman den Woodsford
Square hinauf. Sein eiliger Gang verriet Ungeduld und Spannung. Er
war ein gutaussehender, drahtiger Mann mit einigen wenigen grauen
Strähnen im sonst dunklen Haar. Seine gebräunte Haut und
eine gewisse Haltung im Bewegungsablauf verrieten den erfahrenen
Seemann.
Er
erklomm die Stufen des Stadthauses des Anwalts the right honourable
David Battingfield und klopfte kräftig an die repräsentative
Eichentür. Kurz darauf wurde ihm geöffnet.
» Sie
wünschen?«, begann der Butler, riss dann aber die Augen
auf. »Lord Battingfield, welch unerwartete Überraschung!
Bitte treten Sie ein, ich werde sofort …«
Er
kam nicht weiter. Die Tür zum Salon wurde aufgerissen und der
Hausherr stürmte heraus, gefolgt von Frau und Kinderschar.
»John, mein Gott! Welche Freude, dich zu sehen! Du bist zurück,
gesund und wohlbehalten!« Es entstand ein Gerangel darum, wer
das Vorrecht hätte, den Langvermissten als Erster in den Arm zu
nehmen.
» Wann
seid ihr angekommen?«, fragte David, als man sich etwas
beruhigt hatte. »Ich hatte keinerlei Kenntnis von deiner
Rückkehr.«
» Das
konntest du auch nicht. Wir sind sozusagen auf den Flügeln der
Windsbraut geritten und haben die Passage in weniger als drei Wochen
geschafft. Wir wollten wohl alle nach Hause und hatten genug vom Eis.
Unser letzter Hafen war Reykjavik und wir waren das erste und
schnellste Schiff, das nach England segelte, so konnten wir keine
Nachricht schicken.«
» Und?
Habt ihr die legendäre Passage gefunden?«, wollte David
gespannt wissen.
John
schüttelte den Kopf. »Es war aussichtslos. Als das Packeis
uns schon in den Klauen hatte, mussten wir schließlich
aufgeben. Wir sind nur mit knapper Not dem kalten Tod entronnen.
Allerdings will Peary nächstes Jahr einen erneuten Versuch
starten. Der Mann ist einfach wild entschlossen! Trotzdem: einige
interessante Erkenntnisse haben wir gewonnen. Es war nicht umsonst!«
» Komm
doch erst einmal herein, du musst müde sein!«,
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