Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
drüben ist?« Sie zeigt nach rechts
in eine offene Geländepfanne mit einem anschließenden Buckel zum Weg hinauf.
»Ja, dort
stand in den Siebzigerjahren eine Skisprungschanze. Kaum zu glauben, dass hier einst
das bekannte Uetlibergspringen durchgeführt wurde.«
»Tja, mit
den schneereichen Wintern ist es nun wohl vorbei. Ich bin übrigens gespannt auf
den Baum, den sich deine Eltern ausgesucht haben.«
»Da musst
du dich noch eine Weile gedulden. Apropos Bäume, früher konnte ich eine Buche nicht
von einer Eiche unterscheiden. Inzwischen kenne ich mich dank Iris ganz gut aus.«
»Hast du
gewusst, dass Bäume auch ein Bewusstsein haben?«, fragt Lisa nach einer Weile des
Schweigens.
»Nein, aber
ich bin sicher, dass du es mir erklären wirst.«
»Es ist
ganz einfach. Ein Baum hat einen Körper, der aus Wurzeln, Stamm und Ästen besteht
und einen Geist, der seinen Aufbau bestimmt, sein Wachstum lenkt und dafür sorgt,
dass er in seiner Umgebung harmonisch gedeihen kann. Baum und Geist stehen in Wechselwirkung
zueinander. Es ist wie bei uns Menschen. Unser Geist erfährt sich auch über unseren
Körper. Je länger ich mich mit der Natur befasse, desto mehr komme ich zum Schluss,
dass die Menschen und die Natur von derselben Quelle gespeist werden. Auch wenn
es verschiedene Bewusstseinsaspekte zu geben scheint, so sind wir doch alle durch
dieses eine kosmische Bewusstsein miteinander verbunden.«
Sie sinnt
Lisas Worten nach. »Da ist was dran. Aber leider ist die Natur für die meisten Menschen
unbeseelte Materie, die man nach Lust und Laune ausbeuten und zerstören kann.«
Lisa lächelt
versonnen. »Glaube mir, das wird sich ändern. Und wenn es sich ändert, was meines
Erachtens nur noch eine Frage der Zeit ist, so wird es weitreichende Konsequenzen
haben.«
»Inwiefern?«,
fragt sie interessiert nach.
»Wenn die
Intelligenz der Natur von unserer Gesellschaft anerkannt wird, so können Pflanzen,
Tiere und Bodenschätze nicht mehr als Ware angesehen werden, sondern müssen als
Ausdruck des Einen gewürdigt werden«, erklärt Lisa. »Wir würden dann aufgefordert,
mit der Natur zu kommunizieren und ihre Aufgaben und Rechte zu respektieren. Glaube
mir, das wird unsere menschlichen Grundlagen einschneidend verändern.«
Viktoria
wischt sich mit dem Handrücken über die verschwitzte Stirn. »Ich glaube nicht, dass
sich die Einstellung der Menschen je ändern wird.«
»Wir werden
sehen«, erwidert Lisa nachdenklich. »Ich finde diese Landschaft übrigens zauberhaft.
Es ist Jahre her, seit ich das letzte Mal hier oben war.«
»Das Gehöft
dort drüben«, unterbricht Viktoria ihre Begleiterin, »gehört zum Mädikergut, das,
soviel ich weiß, immer noch im Besitz des Zürcher Hotels Baur au Lac ist.
Früher trugen Maulesel die Lebensmittel von hier oben bergab ins Hotel.«
»Und wie
erfolgt der Transport heute?«, fragt Lisa interessiert nach.
»Mit einer
privaten Luftseilbahn.« Das Lärmen des Handys drängt sich zwischen ihre Worte. »Bitte
entschuldige, Lisa.« Sie entfernt sich ein paar Schritte von ihr und nimmt den Anruf
entgegen. Es ist ihre Coiffeuse, die ihren morgigen Termin um eine Stunde vorverschiebt.
Sie klappt ihr Mobiltelefon zusammen und geht zu Lisa zurück.
21
Der Wind kommt von Norden und er
frischt zunehmend auf.
Eine Zeit
lang gehen die beiden Frauen wortlos nebeneinanderher.
»Hast du
mit diesem Kriminalpolizisten von damals noch Kontakt?«, nimmt Lisa das Gespräch
erneut auf.
»Nachdem
die Ermittlungen abgeschlossen waren, haben wir uns aus den Augen verloren. Aber
vor drei Tagen sind wir uns in Ägypten zufällig wieder über den Weg gelaufen. Oder
vielmehr über den Weg geschwommen. Wir haben in demselben Hotel Ferien gemacht.«
»Und?«
»Nichts
und. Ich glaube nicht, dass wir uns wiedersehen werden.«
»Oh doch,
das werdet ihr«, erwidert Lisa verschmitzt.
»Warum bist
du dir da so sicher?«
»Lass dich
überraschen. Darf ich dir einen Rat geben?«
»Du kannst
es versuchen.«
»Zeig dich
ihm auch mal schwach. Sag ihm, dass dich seine Unverbindlichkeit schmerzt. Männer
bewundern zwar starke Frauen, doch gleichzeitig fürchten sie sich vor ihnen. Er
sieht dein Selbstbewusstsein und deine Unabhängigkeit und fragt sich, was er dir
überhaupt noch bieten kann?«
»Vielleicht
hast du recht. Valentin ist seit dem Tod von Lucien der erste Mann, der mir etwas
bedeutet.«
»Grund genug,
um nicht einfach aufzugeben, findest du nicht?«
»Wir werden
sehen«, entgegnet
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