Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
Viktoria mit einem vielsagenden Blick.
Beim verwahrlosten Gasthaus Baldern
bleiben die beiden Frauen stehen.
»Früher
konnte man hier im Garten unter den Bäumen ein Bier trinken«, schwärmt Viktoria.
»Schade, dass es geschlossen ist. Und sieh mal dort drüben, das ist der Hügel der
ehemaligen Burg Baldern. Leider kann man die Überreste des Burggrabens nur noch
erahnen.«
Lisa nickt
bedächtig. »Und soviel ich weiß, lebte dort einst ein König namens Ludwig der Deutsche.
Die Kirche Fraumünster haben wir seinen beiden Töchtern Hildegard und Berta zu verdanken.«
»War da
nicht auch etwas mit einem Hirsch?«, erkundigt sich Viktoria.
»Doch. Der
Legende zufolge pilgerten die beiden Töchter geführt von einem weißen Hirsch mit
leuchtendem Geweih dreimal an die Stelle, wo heute das Fraumünster steht, worauf
der Vater auf Geheiß seiner Töchter diese Kirche für sie bauen ließ.«
»Komm«,
drängt Viktoria ihre Begleiterin, »wir sind fast da. Als meine Mutter starb, hat
sich mein Vater für ihre Asche einen Baum ausgesucht, der in der Nähe der Felsenegg-Seilbahn
liegt. Er dachte, dass er so das Grab meiner Mutter ab und zu besuchen könnte. Doch
dann wurde er sehr krank, und danach war die Reise zu anstrengend für ihn. Schau,
dort drüben bei der Baumgruppe ist es. Ich habe ein paar Teekerzen mitgebracht.«
Nach ein paar Schritten bleibt sie wie angewurzelt stehen.
»Nanu, du
bist ja ganz bleich. Geht es dir nicht gut?«, fragt Lisa besorgt.
Sie zeigt
auf einen Baumstumpf. »Die Buche«, stammelt sie, »Sie haben die Buche gefällt und
das Grab meiner Eltern zerstört.« Ihre Stimme schwillt an. »Wie konnten sie nur.«
Lisa versucht
sie zu trösten, doch sie löst sich abrupt aus ihrer Umarmung.
Das Licht
fällt schräg über die Baumwipfel genau auf den Wurzelstock und es kommt Viktoria
in diesem Moment so vor, als haben die Vögel zu pfeifen aufgehört.
Sie legt
die Teekerzen auf den Strunk und zündet sie an. Als sie sich wieder einigermaßen
gefasst hat, sagt sie zu Lisa: »Vielleicht ist es nun wirklich Zeit, von meinen
Eltern Abschied zu nehmen.«
22
Der Dienstag beginnt mit Regen.
Gewöhnlich
bereitet es Viktoria ein kindliches Vergnügen, am Morgen bei einer Tasse Kaffee
die Zeitung zu lesen. Doch heute hat sie dazu keine Zeit, weil ihre Coiffeuse den
Termin früher angesetzt hat.
Während
sie sich bereit macht, schweifen ihre Gedanken zu Lucien. Früher, als er noch lebte,
begannen die Sonntage immer mit Kaffeetrinken und Zeitunglesen. Lucien besorgte
die Sonntagszeitung und die frischen Croissants. Er liebte die frühen Morgenstunden,
wenn Zürich langsam erwachte, und das Gespräch mit der Bäckersfrau um die Ecke.
Dieses war nur eines von vielen Ritualen, die sie verbunden hatten. Sie waren in
jeder Beziehung Verbündete gewesen, ohne einander einzuengen.
Da der Regen
immer heftiger wird, beschließt sie mit der S-Bahn statt mit dem Fahrrad zu ihrer
Coiffeuse nach Meilen zu fahren.
23
Viktoria lernte Alex Mannhart seinerzeit
während ihrer Recherchen über Heimkinder kennen. Damals hatte die Wissenschaft noch
keinen tieferen Blick in ein bisher kaum beleuchtetes Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte
geworfen, und die traurige Vergangenheit der Heim- und Pflegekinder war noch nicht
aufgearbeitet.
Bei ihren
Nachforschungen fand sie heraus, dass auch noch Mitte der Siebzigerjahre die Zahl
der fremdplatzierten Kinder in die Zehntausende ging. Etwa drei Viertel davon lebten
in Heimen. Nach der Veröffentlichung ihrer Reportage ›Das große Grauen in den Kinderheimen‹
wurde sie von Betroffenen mit Leserbriefen überschüttet. Es wurde viel Staub aufgewirbelt,
der sich leider aber bald wieder legte. Damals stach sie gerne in Eiterblasen, doch
den Kampf für Gerechtigkeit überließ sie lieber andern.
Alex war eine dieser sogenannten
Sozialwaisen. Ein außereheliches Kind, dessen Mutter gezwungen war, einer Arbeit
nachzugehen. Aus Sicht der Behörde war ihre Mutter nicht in der Lage, sie vor Verwahrlosung
zu schützen. Hinzu kam, dass Alex als schwererziehbar eingestuft wurde, weil sie
eigensinnig und rebellisch war. So erlebte sie die Jahre ihrer Jugend in einem Kinderheim.
Dort lernte sie das große Grauen buchstäblich kennen. Wie viele andere Heimkinder
wurde sie gedemütigt und mit Prügelstrafen diszipliniert. Noch in den Siebzigerjahren
waren brutale Erzieher und sadistische Heimleiter keine Seltenheit, sondern von
der Gesellschaft tolerierter
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