Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
ausstrahlt.
»Inwiefern
anstrengend?«, fragt Viktoria nach.
»Es gibt
Menschen, denen fehlt die Bereitschaft, sich auf etwas Neues einzulassen. Sie beharren
auf ihrem Standpunkt und stellen alles in Frage. Das ist für eine Kursleiterin sehr
aufreibend.
»Kann ich
mir vorstellen. Ich frage mich, warum solche Leute überhaupt an einem Erdheilungsseminar
teilnehmen?«
»Manchmal
ist halt die Neugier größer als die Zweifel«, stellt Lisa fest.
»Ich kann
schon verstehen, warum der Umgang mit Feinstofflichem vielen Menschen schwerfällt«,
erwidert Viktoria nachdenklich.
»Ich auch«,
stimmt ihr Lisa zu. »Wir dürfen nicht vergessen, dass es Jahrhunderte gab, wo alles
Übersinnliche des Teufels war. Heilkundige und Weissagende riskierten ihr Leben,
wenn sie ihre Arbeit verrichteten. Wahrscheinlich sitzt diese Angst bei den meisten
Menschen noch so tief in ihrem Zellgedächtnis, dass sie unbewusst alles ablehnen,
was ihr Intellekt nicht einordnen kann. Gleichzeitig sind in unserer stark vernunftorientierten
Zeit andere Werkzeuge gefragt.«
»Willst
du damit andeuten, dass unsere instinktiven Fähigkeiten verkümmert sind, weil wir
sie nicht mehr brauchen?«
»Ja, genau.
Aber nun zu dir Viktoria. Ich bin erstaunt, dich hier zu sehen. Ich hätte dich eher
auf dem Bachtel vermutet.«
»Ich möchte
das Grab meines Vaters besuchen.« Sie erzählt Lisa von der Buche, wo die Asche ihrer
Eltern liegt. »Übrigens bin ich umgezogen. Ich wohne jetzt in Küsnacht.« Sie reicht
ihrer Begleiterin eine Visitenkarte. »Komm mich besuchen, wenn du mal in der Nähe
bist. Es würde mich freuen.«
»Das werde
ich bestimmt tun«, antwortet Lisa.
Als der Zug beim Triemli-Spital
vorbeifährt verengt sich Viktorias Brust. Das am Fuß des Uetlibergs gelegene Stadtspital
ist der Ort, wo ihre Mutter operiert wurde und kurz danach an einer Infektion starb.
»Es tut mir leid, dass dein Vater
gestorben ist«, reißt Lisa sie aus ihren Gedanken. »Bist du deswegen immer noch
traurig?«
»Kommt vor,
ja«, bestätigt sie.
»Möchtest
du darüber reden?«
»Da gibt
es nicht viel zu reden. Das Problem ist, dass ich nicht loslassen kann.«
»Auch bei
mir häufen sich die Abschiede«, vertraut Lisa ihr an. »Das liegt wohl an unserem
Alter. Wir leiden, weil wir unsere Identität über jene Menschen definieren, die
wir lieben.«
»Du bringst
es auf den Punkt. Zum Glück falle ich wie eine Katze immer wieder auf die Füße,
und so geht es mir die meiste Zeit ganz gut.« Nach einer Weile fährt sie fort: »Eigentlich
hatte ich mir vorgenommen, eines deiner Seminare zu besuchen.«
»Es würde
mich freuen. Du bist dort jederzeit willkommen«, gibt Lisa lächelnd zurück.
20
Der Zug dringt gemächlich zum Uetliberg
vor, dessen touristische Erschließung bereits im neunzehnten Jahrhundert mit der
Uetlibergbahn und dem Bau verschiedener Hotels und Gasthäuser auf der Bergspitze
und entlang der Albiskette begann. Verglichen mit den üblichen Schweizerbergen scheint
es Viktoria angemessen, von einem Hügel statt von einem Berg zu sprechen. Dessen
ungeachtet ist der Piz Uto für sie und alle restlichen Zürcher ihr Hausberg.
»Komm lass uns aussteigen, bevor
alle anderen Spaziergänger aufbrechen«, drängt Viktoria ihre Begleiterin, als der
Zug an der Bergstation anhält.
»Denkst
du noch oft an unsere verstorbene Freundin Iris?«, will Lisa wissen, nachdem sie
das erste steile Stück Weg zurückgelegt haben.
»Eigentlich
nur noch selten. Ich glaube es ist mir gelungen, ihren Tod in einem Kriminalroman
zu verarbeiten.«
»Wow, du
hast ein Buch geschrieben? Kann man es schon kaufen?«
»Nein, das
dauert noch eine Weile. Ich bin Iris übrigens sehr dankbar, dass sie mir die Augen
für die Natur geöffnet hat. Unterdessen gehe ich regelmäßig in den Wald und möchte
diese Spaziergänge um nichts in der Welt mehr missen.«
Lisa strahlt
sie an. »Das freut mich für dich.«
»Und du,
wohnst du immer noch in Winterthur?«
»Ja, aber
ich werde bald in mein kleines Ferienhaus im Toggenburg umziehen. Dank meiner Altersrente
kann ich meinen Brötlijob in der Stadt aufgeben, was bedeutet, dass ich endlich
ganz aufs Land ziehen kann.«
Verblüfft
bleibt Viktoria stehen. »Altersrente?«
Diese Frage
entlockt Lisa ein Schmunzeln. »Ja, vor ein paar Wochen habe ich meinen Vierundsechzigsten
gefeiert.«
»Verrätst
du mir das Geheimnis deines Jungbrunnens?«
»Gute Gene«,
erwidert Lisa verschmitzt. »Weißt du, was das dort
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