Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
bezahlt
werden muss.
Nun, sie
hat schließlich wieder in ihr Leben zurückgefunden, ein abgespecktes Leben zwar.
Bald ist sie vierundfünfzig Jahre alt und somit aus dem Alter heraus, in dem sich
Besserwisserei und Selbstdarstellung mit dem ungestümen Selbstvertrauen der Jugend
rechtfertigen lassen.
Die kleiner
werdende Lebensspanne lässt sie keine Zeit mehr verschwenden. Hochfliegende Ziele
hat sie keine mehr. Es reicht ihr, dass alles so ist, wie es ist. Doch es gibt nach
wie vor Tage, an denen alle Strategien versagen und sie wieder ganz von vorne beginnen
muss.
Sie geht
in die Wohnung zurück und schließt die Terrassentür hinter sich. Heute braucht sie
noch eine zweite Tasse Kaffee. Obwohl die Rückreise von Ägypten nicht besonders
anstrengend war, hat sie das Gefühl, noch nicht wirklich zu Hause angekommen zu
sein.
18
Viktoria beschließt, das Grab ihres
Vaters zu besuchen. Ihren Vater, den sie über alles liebte.
Seinem Tod
folgte ein Jahr der Berg-und-Tal-Fahrt durch Trauer und Ernüchterung. Mit ihrem
Vater hatte sich auch ihre Jugend endgültig verabschiedet. Es gibt auch heute noch
Momente totaler Verlorenheit, in denen sie verzweifelt seinen Rat sucht. Jetzt versteht
sie die Aussage: Erwachsen wird man erst, wenn die Eltern tot sind.
Inzwischen
hat sie das verloren geglaubte Gleichgewicht wieder hergestellt und es gelingt ihr
mehr oder weniger, ihr Leben unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
Gut eine Stunde später sitzt Viktoria
in der S-Bahn und kaum hat sie es sich dort bequem gemacht, fährt der Zug schon
in den Zürcher Hauptbahnhof ein.
Für sie
ist der im Neorenaissance-Stil errichtete Hauptbahnhof oder HB das pulsierende Herz
von Zürich. Er gleicht einer gewaltig verschachtelten Maschinerie. Einem Uhrwerk
gleich greifen große und kleine, perfekt aufeinander abgestimmte Zahnräder ineinander.
Dieser Ort ist auch ein Kristallisationspunkt, der mithilft, die Identifikation
mit dieser Stadt zu fördern.
Die sechsundzwanzig
Perrongleise und bis zu einer halben Million Passagiere täglich machen ihn zum größten
Bahnhof in der Schweiz und zu einem der meistfrequentierten Bahnhöfe der Welt. Sie
findet es beeindruckend, dass hier jede halbe Minute ein Zug ein- oder ausfährt.
Wie jeder
in Zürich weiß sie, dass der HB eine riesige Arbeitsstätte ist, die in diesem scheinbaren
Chaos eine ausgeklügelte Ordnung aufrechterhält. Dieser Perfektionismus ist ein
typisches Abbild der Menschen dieser kraftvoll pulsierenden Stadt, die mehr durch
Fleiß und Sparsamkeit glänzt, als durch Lust und Leidenschaft.
An diesem
Morgen kommt es Viktoria so vor, als bewege sie sich in einem Ameisenhaufen. Geschickt
navigiert sie sich durch dieses mehrstöckige Labyrinth, das voller Piktogramme,
Hinweistafeln und Schilder ist.
In der Haupthalle
kommt sie an einer alten Frau vorbei, die wie immer an ihrem gewohnten Platz steht,
dort, wo das Menschengewühl am dichtesten ist. An ihren Rollstuhl gelehnt und abgestützt
auf einer Krücke, segnet sie tagein, tagaus die Passanten und wendet dabei ihren
Kopf unermüdlich von rechts nach links. Jeder, der regelmäßig auf dem HB verkehrt,
weiß, dass sie ebenso zum Inventar dieser riesigen Anlaufstätte gehört wie der Nana-Engel
von Niki de Saint Phalle, der unübersehbar über der Haupthalle schwebt.
Während
Viktoria im Untergeschoss des Bahnhofs unter dem Shopville auf die Uetlibergbahn
wartet, muss sie unweigerlich an ihren verstorbenen Mann Lucien denken, der sie
früher immer im HB abgeholt hatte, wenn sie von ihren Reportagen im Ausland nach
Hause zurückkehrte.
Er fehlt
ihr noch immer und mit ihm die vielen kleinen Rituale.
19
Viktoria macht es sich in einem
der orangen Waggons der Uetlibergbahn bequem.
Kaum hat
sie sich gesetzt, wird sie von ihrer Sitznachbarin mit »Hallo, Viktoria« angesprochen.
Sie schaut
überrascht auf und erblickt Lisa Kesselring, eine alte Bekannte. »Oh schön, dich
zu sehen«, sagt sie erfreut und streckt der molligen Frau ihre Hand entgegen.
Diese antwortet:
»Ganz meinerseits.«
»Darf ich
fragen, was dich hierherführt?«
Lisa gibt
zurück: »Ich hab’ mir vorgenommen, zur Felsenegg zu wandern.«
»Wunderbar,
dann haben wir denselben Weg. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Wie
geht es dir?«
»Ich hab’
zwei anstrengende Erdheilungsseminare hinter mir«, erklärt die kleine Frau mit dem
runden, fröhlichen Gesicht, das eine sanfte Autorität
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