Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
zu begegnen. Und sie
hat mittlerweile herausgefunden, dass diese Waldschlucht sehr wohl auch ihre grausamen
Seiten hat, es hier ›Kannibalen‹ und ›Plünderer‹ gibt.
So ist das
fleischfressende Fettkraut heimisch, das mit Hilfe seiner klebrigen Fangdrüsen kleine
Insekten fängt und verspeist. Auch vor listigen Täuschungskünstlern wie dem Frauenschuh
gilt es sich in Acht zu nehmen. Mit seinem auffällig gelben Blütenblatt lockt er
seine Beute mit verführerischen Düften an und gibt den neugierigen Besucher erst
wieder frei, nachdem er ihn bis auf die nackte Haut ausgeraubt hat.
Viktoria erhöht ihr Tempo, bis sie
ins Schwitzen kommt. Mit jedem Schritt fühlt sie sich besser.
Dunstschwaden
steigen über dem glitzernden Dorfbach auf, und die Sonne wirft ihre Strahlen durch
das dichte Laub der Bäume. Das Wasser plätschert an diesem Morgen friedlich bachab,
und es kommt ihr so vor, als spiele es mit den Steinen in seinem Bett.
Was für
ein Glück, dass sie nicht wie die meisten anderen Menschen einem selbstkasteienden
Brotjob nachgehen muss. Das Privileg, tun und lassen zu können, was sie will, hat
sie ihrem verstorbenen Mann Lucien zu verdanken, der ihr eine beachtliche Summe
Geld vererbt hatte.
Allerdings
hätte sie sich früher ein solch beschauliches, unstrukturiertes Leben schlicht nicht
vorstellen können. Sie hatte ihren Job als Journalistin gemocht, obwohl ihr unersättlicher
Ehrgeiz sie dazu angetrieben hatte, mit Vollgas durchs Leben zu rasen.
Ihr verstorbener
Mann Lucien war ihr ruhender Pol gewesen. Nach seinem Tod gab es diesen Ausgleich
nicht mehr, und ihre scheinbar unbesiegbare Fassade begann abzublättern. Erst als
sie akzeptieren konnte, dass im Leben nichts vorhersehbar ist, dass sein Tod unverrückbar
ein Stück Leben aus ihr herausgerissen hatte, konnte sie sich mit seinem Tod versöhnen.
Es gibt Tage, an denen ihr Lucien immer noch schmerzlich fehlt. Und dennoch scheint
ihr, als breche eine neue Ära an. Sie ist jetzt bereit, sich der Liebe erneut zu
öffnen.
Auf der Höhe des sagenumwobenen
Drachenlochs wird sie von einer Horde schreiender Kinder, die versucht, den steilen
Hang zur Drachenhöhle zu erklimmen, aus ihren Gedanken gerissen.
Einst war diese Gegend von saftigen
Weiden umgeben, erzählt eine andere Sage. Doch dann zog ein gefährlicher Drache
hier ein und verwüstete die Umgebung, indem er sich bei heftigen Gewittern in einen
tosenden Wildbach verwandelte, der das Erdreich aufriss und Schotter, manchmal ganze
Bäume mit sich fortriss.
So kam es
immer wieder vor, dass Küsnacht, das auf dem Überschwemmungskegel des Bachs steht,
verwüstet wurde. Selbst die stärksten und mutigsten Kerle im Dorf konnten den Drachen
nicht in seine Schranken weisen.
Schließlich
machte sich eines Tages eine zierliche Frau auf den Weg zum Loch, wo der Drache
sie schnaubend empfing. Natürlich war die Frau wunderschön. Sie fürchtete sich nicht
vor dem wilden Tier, sondern sprach beruhigend auf es ein, bis es sich ihr friedlich
vor die Füße legte und wie eine Katze zu schnurren begann.
Um die Kraft
des Drachens zu bannen, legte die Frau ihm ein diamantenes Halsband um, das die
Macht hatte, ihn versöhnlich zu stimmen.
Tja, und
heute verlässt der Drache seine Höhle nicht mehr, sondern schläft sanftmütig vor
sich hin.
So erzählt
man es sich wenigstens.
Für Viktoria ist das magische Halsband
ein Symbol dafür, dass man den Bach in ein künstliches Bachbett mit unzähligen Schwellen
gezwungen hatte.
Dadurch
ist das Wasser zwar gezähmt, aber es kann nicht mehr frei seinem natürlichen Lauf
folgen und verliert dadurch einen Teil seines Zaubers.
Der Hunger zwingt Viktoria, umzukehren.
Da es auf dem Rückweg leicht bergab geht, kommt sie gut voran.
Auf der
kleinen Brücke beim Werkgebäude bleibt sie zum letzten Mal stehen.
Zurzeit
erhitzt nicht mehr der Drache die Gemüter der Dorfbewohner, sondern ein am Tobel-Eingang
geplantes Fäkalkraftwerk. Dort soll das ganze Toilettenabwasser der Gemeinde Zumikon
gereinigt werden. Lärm und Gestank sind somit vorprogrammiert.
Das wenigstens
befürchten die Anwohner.
40
Nach dem Frühstück macht sich Viktoria
zu Fuß auf den Weg zum Supermarkt.
Als sie
im Laden vor den vollen Regalen steht, ärgert sie sich darüber, dass sie die Einkaufsliste
zu Hause auf dem Wohnzimmertisch liegen gelassen hat.
Als sie
zwanzig Minuten später das Geschäft mit voller Tasche verlassen will, kommt ihr
beim Ausgang in den
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