Pflugstein: Kriminalroman (German Edition)
Geschichte zeigen:
Eine dunkle
Häuserschlucht und das Profil eines Mannes, der im milchigen Schein einer Straßenlaterne
seines Weges geht.
Auf dem
nächsten Bild zwei dunkle Gestalten, die mit gezückten Messern dem Mann hinterherschleichen.
Auf dem
dritten Bild liegt der Mann auf dem Boden und wird von den Verfolgern mit Messern
traktiert.
Und zuallerletzt
das Opfer, das in einer roten Lache zusammengekrümmt auf dem Boden liegt.
Sascha ist für seine Gabe bekannt,
die äußere Welt in die innere aufzunehmen und sie in verwandelter Form durch seine
Bildgeschichten auszudrücken. Doch was sie hier sieht, erfüllt sie mit Grauen. Was
sie erschüttert, ist nicht so sehr die Brutalität der Comicstrips, sondern die Möglichkeit
des damit verbundenen Schuldbekenntnisses.
»Diese Bilder verfolgen mich Tag
und Nacht«, reißt Sascha sie aus ihren Gedanken.
»Nimmst
du Drogen?«, fragt sie ihn aus einem Impuls heraus.
»Ab und
zu rauche ich etwas, wie ich es schon immer getan habe«, gibt er gereizt zurück.
»Aber warum
plötzlich diese Gewalt in deinen Bildern?«
»Ich muss
mich hinlegen«, weicht er ihrer Frage aus, macht auf dem Absatz kehrt und verlässt
das Arbeitszimmer.
Sie schaut
sich die Bilder noch einmal an. Sie empfindet dabei einen tiefen Ekel. Obwohl der
persönliche Schicksalsschlag ihn in einer solchen Intensität getroffen hat, versagt
sein Ventil, seine Gefühle zu kanalisieren und durch Bilder zum Ausdruck zu bringen,
nicht. Bestürzt wendet sie sich ab.
Ihr Blick
fällt auf das vollgestopfte Bücherregal, das bis zur Decke reicht. Sie greift nach
einem dünnen Band, der aufgeschlagen auf dem Boden liegt: Sagen aus dem Kanton
Zürich . Sie muss nicht lange nach der Fluchstein-Sage suchen.
»Kommst du?«, vernimmt sie Saschas
Stimme aus dem Wohnzimmer.
»Ich mach
uns eine Tasse Kaffee«, ruft sie, um etwas Zeit zu gewinnen.
Als sie
wenig später mit zwei Espressi das Wohnzimmer betritt, liegt er zusammengerollt
auf dem Sofa.
Sie streckt
ihm den Sagenband entgegen. »Besitzt du dieses Buch schon lange?«
»Ein Volkskundler-Freund
hat es mir vor vielen Jahren geschenkt. Irgendwo sollte noch eine Widmung stehen«,
erwidert er tonlos.
Sie setzt
sich zu ihm. »Sascha, was ist an diesem Abend wirklich geschehen?«
Er schließt
die Augen.
Schweigen.
Sie harrt
ungeduldig aus. Doch als er nach einigen Minuten immer noch keinerlei Anstalten
macht, sich zu erklären, steht sie auf und fährt ihn an: »Ich gehe jetzt. Ich verschwende
hier nur meine kostbare Zeit.«
»Nein, bitte
warte.« Er beginnt stockend zu erzählen. »Zwischen Joe und mir begann alles so wunderbar.
Joe war aufregend. Er pulsierte geradezu vor Leben, verstehst du? Wir waren uns
in dieser Hinsicht sehr ähnlich. Ich habe ihn nie schlecht gelaunt erlebt.« Er presst
seine Handballen an die Schläfen, als könne er damit die Erinnerung an seinen verstorbenen
Freund heraufbeschwören.
Erneut Stille.
Sie versucht,
ihre aufkommende Gereiztheit zu unterdrücken.
»Joe hat
meine Arbeit verstanden«, fährt er endlich fort. »Er verstand mich besser, als ich
mich selbst. Es gelang ihm, die richtigen Fragen zu stellen. Sein Interesse war
echt. Und er war großzügig wie Lucien damals. Nicht nur in finanzieller Hinsicht.«
Auf seiner Oberlippe bilden sich Schweißperlen. »Joes sprudelnde Energie war ansteckend.
Er konnte über alles lachen, am meisten über sich selbst. – Warte, ich zeige dir
etwas.« Er steht auf, verlässt das Wohnzimmer und kommt kurz danach mit einem Zeichnungsblock
zurück. »Hier. Ich habe die Bilder noch nie jemandem gezeigt.« Er bleibt erwartungsvoll
vor ihr stehen.
Die intimen,
pornografischen Liebesszenen sind ihr peinlich, und gleichzeitig findet sie sie
ergreifend. Alle Bilder sind unglaublich bewegt und leidenschaftlich.
»Ich wollte
sie Joe zu seinem fünfundfünfzigsten Geburtstag schenken. Es sollte eine Überraschung
werden.« Saschas Blick verliert sich in der Ferne. »Joe hatte alles, was er sich
wünschte und er war sich dessen bewusst. Er war der Meinung, dass er mit gezieltem
Denken sein Leben jederzeit in die von ihm gewünschte Richtung lenken konnte. Wenn
jemand ihn nach seinem Erfolgsrezept fragte, pflegte er zu sagen, dass er die geistigen
Gesetze verstehen würde.«
»Ganz schön
anmaßend«, fällt sie ihm ins Wort.
»Du würdest
anders denken, wenn du Joe gekannt hättest.« Er setzt sich ihr gegenüber auf einen
Lederfauteuil. »Joe lebte in der festen
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