Pforten der Nacht
er freilich schon jetzt erbärmlich schwitzte.
Eine mürrische Magd ließ ihn ein und führte ihn in ein großes Zimmer mit holzgetäfelter Decke. Die bleigefassten Fensterscheiben waren nach oben geschoben, um Licht und Luft hereinzulassen, eine neumodische Schiebekonstruktion, die Guntram bisher noch nirgendwo sonst in Köln gesehen hatte. Teppiche hingen an den Wänden, und auch den Dielenboden bedeckte ein dickes Stück Teppich mit leuchtenden, fremdländischen Mustern.
»Guntram Brant?« Die heisere Stimme kam von dem Lehnstuhl am anderen Tischende. Jan van der Hülst machte sich nicht die Mühe, aufzustehen, sondern winkte ihn näher. Er gehorchte. »Tragt vor, was Ihr uns zu sagen habt. Meine Zeit ist, wie ich Euch schon mitteilen ließ, begrenzt.«
Hinter ihm stand sein Sohn Rutger in einem grünsamtenen, viel zu engen Rock, der seitlich geschlitzt und bunt gefüttert war und seine Fülle noch betonte. Guntram gönnte ihm nur einen raschen, abschätzigen Blick. Dieser Fettwanst war ebenso wenig nach seinem Geschmack wie Johannes, dessen brennender Blick ihm schon immer Unbehagen eingeflößt hatte. Jan van der Hülst hatte nicht gerade Glück mit seinen Söhnen. Aber was ging ihn das schon an?
Seine Zukunft lag in dem Stück grauen Filz verborgen, den er im Rucksack trug. Er schlug ihn auseinander, legte das Chronometer vorsichtig auf den Tisch und hängte den Flintstein in die Öse. Danach hielt er alles am leicht gebeugten Arm, drehte sich etwas zur Seite, um eine gute Sicht zu garantieren, und kam ohne Umschweife zur Sache.
»Ein Holzkasten, eine Spindel, zwei kleine Gewichte, drei ineinandergreifende Räder, ein Zeiger, eine Schnur, ein Stein - das ist alles, was man dazu braucht. Keine Flüssigkeiten mehr wie bei Wachs- oder Öluhren, kein Sonnenstand, keine Kerzen, die mit ihrem Abbrennen die Zeit anzeigen.«
Jan van der Hülsts Miene blieb unbewegt, während sich Rutger unbehaglich hinter ihm räusperte. Er schien sich schon jetzt zu langweilen. Guntrams Anspannung wuchs.
»Soll ich fortfahren?«, fragte er. Das Gewicht in seiner Hand war schwerer als gewohnt. »Wollt Ihr, dass ich in die Einzelheiten gehe?«
»Deshalb seid Ihr doch schließlich hier, oder?«, kam es scharf zurück. »Oder gibt es einen anderen Grund dafür?«
Ärger stieg in ihm auf, aber er strengte sich an, ihn nicht zu zeigen. Er schwitzte stärker und wünschte, sich auf der Stelle des ungewohnten schweren Überkleids entledigen zu können. Wenn er angespannt war wie jetzt, fiel es ihm auch schwerer, deutlich zu sprechen. Guntram zwang die Erinnerung an seine Übungen vor dem Wasserfall herbei und bemühte sich, den letzten Teil des Satzes nicht zu verschlucken.
»Die Triebkraft, das Gewicht, wirkt zunächst auf das große Zahnrad und von diesem auf die kleineren, ineinander übergehenden Zahnräder, und zwar so, dass stets ein großes in ein kleines Rad eingreift. Das letzte Rad würde also sehr schnell laufen, während das der Zugkraft nächste Rad nur langsam abläuft. Aber es gibt ja noch die Hemmung, diese Spindel hier.« Er berührte sie leicht mit dem Finger. »Und die beiden kleinen Gewichte links und rechts.« Ebenfalls ein kurzes Antippen. »Eine Art Gangregler, um das Ablaufen möglichst gleichmäßig zu gestalten. Innerhalb von zwölf Stunden bewegt sich der Zeiger einmal über das Zifferblatt. Nach dieser Zeit ist das Gewicht, der Stein, unten angelangt, und Ihr müsst nur an der Schnur ziehen, um die Konstruktion wiederum in Gang zu setzen. Ihr braucht auf niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, keine Jahreszeit, keinen Sonnenstand, nicht einmal auf das Schlagen der Kirchturmglocke. Ihr seid Meister Eurer eigenen Zeit.«
»Das ist alles?«, kam es von Jan van der Hülst.
»Das ist alles«, bekräftigte Guntram Brant. Sein Arm fühlte sich an, als hinge Blei daran; aber er hielt die Uhr nach wie vor und wartete.
»Meister der eigenen Zeit«, wiederholte der Vater, als schmecke er Guntrams Worten nach. »Deshalb seid Ihr wohl damit zu mir gekommen«, fuhr er fort, während sein Sohn reichlich verständnislos dreinschaute, »zu mir, dem Kaufmann, der die Zeit verkauft, die ja doch allen Kreaturen eigen ist, habe ich recht? Die Sonne am Himmel ist verpflichtet, sich hinzugeben, um zu leuchten; desgleichen ist die Erde verpflichtet, alles von sich zu geben, was sie hervorzubringen vermag. Aber nichts gibt sich in einer Weise hin, die der Natur gemäßer ist als die Zeit, wohl oder übel, die Dinge haben Zeit.
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