Pforten der Nacht
Kopf. »Nein, das wäre nichts für mich. Ich kann ja nicht einmal jonglieren wie du.«
»Seid Ihr ganz sicher?«
Er musste die Gabe besitzen, den Menschen direkt ins Herz zu schauen. Seitdem Esra sie am Fluss umarmt hatte, hatte sich tatsächlich etwas in ihr verändert. Es würde kein zweites Mal geben, hatte Anna sich geschworen, das war sie Ardin schuldig und dem neuen Leben, das er ihr geschenkt hatte. Aber die Berührungen des frischen jungen Körpers, die zärtlichen Küsse und vor allem Esras Geständnis hatten etwas in ihr lebendig werden lassen, das lange Zeit verschüttet gewesen war.
Ein heißes Gefühl. Und ein äußerst gefährliches Gefühl dazu.
Wenn sie nicht aufpasste, wenn sie weiter zuließ, was da ganz überraschend in Gang gekommen war, würde es alles verändern, die Art, wie sie mit Leonhart sprach, wie sie ihn anfasste, wie sie ihn empfing. Schon jetzt gab es manchmal Momente, wo sie unwillkürlich seine Nähe mied und schnell eine dringende Arbeit vorschützte, um allein zu sein. Nein, Flüsse, tanzende Bälle und feuchte Nächte im Gras waren nicht das, was sie reizte, die Freiheit aber, von der Bocca gesprochen hatte, sehr wohl!
»Ja, das bin ich«, sagte sie weniger zu ihm als zu sich selber.
Natürlich war Esra seitdem nicht wiedergekommen, und wenn sie ehrlich war, hatte sie es auch gar nichts anders erwartet. Trotzdem ertappte sie sich dabei, dass sie bei Besorgungen außerhalb des Gerberviertels unwillkürlich den Kopf drehte, ob er nicht doch zufällig irgendwo auftauchte. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, Recha und Lea zu besuchen - aber was hätte sie wirklich angefangen, hätte sie ihm tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden?
»Das bin ich sehr wohl«, bekräftigte sie noch einmal.
»Ich gehe fort«, sagte er, ohne auf ihre Antwort einzugehen. »Ich muss.«
»Jetzt schon?«
»Ihr habt gut reden! Habt Ihr mal die Gesichter der Leute gesehen, wenn ich meine Bälle springen lasse? Am liebsten würden sie mich zum Frühstück verspeisen!« Unruhig tänzelte er vor ihr hin und her. »Außerdem bin ich längst gesund, der Sommer ist nah und damit die Zeit der Jahrmärkte. Jetzt ist die beste Möglichkeit, um ein bisschen Geld für den Winter zu verdienen. Ich gehe über den Fluss. Hinüber ins Elsass. Da sind die Köpfe weiter, und die Börsen sitzen lockerer.«
»Und wann?« Er war ihr mehr ans Herz gewachsen, als sie zugeben mochte. So sehr, dass sie ihn schon mehr als einmal vor Leonhart verteidigt hatte, der nicht einsehen wollte, was Bocca noch immer bei ihnen zu suchen hatte.
Er verzog die Lippen.
»Nächste Woche. Nach der großen Prozession. Wenn ihr eure goldene Leiche durch die Straßen tragt.«
»Den Leib des Herrn«, verbesserte sie, »in einer goldenen Monstranz. Fronleichnam ist ein schönes Fest, mit all den Blumen und Kränzen.«
»Die Große Mutter braucht keine toten Kränze und Blumen, die man abgeschnitten hat, damit sie schon am Abend verwelkt und verdorrt sind«, sagte er. »Ihr ganzer Leib ist die Erde. Und damit auch alles, was auf ihr blüht und wächst, was entsteht und geboren wird, um wieder zu vergehen. Ihr seid eine Frau und habt ein Kind zur Welt gebracht. Ihr solltet wissen, was das bedeutet.«
»Lass uns nicht wieder über deine schwarze Göttin zu streiten anfangen«, bat Anna und nahm den Wasserbottich auf. »Gott, der Herr im Himmel, ist dreifaltig: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.«
»Keine Frau?«
»Keine Frau.«
Sein Lächeln wurde breiter. Er liebte diese spitzfindigen Gespräche, besonders, wenn sie dazu dienten, Anna von der Arbeit abzuhalten. »Und was ist dann mit der Madonna?«
Sie ließ den Bottich wieder sinken.
»Maria ist die Mutter Jesu«, sagte sie, »und hat ihn im Stall zu Bethlehem geboren. Das habe ich dir inzwischen schon mindestens ein Dutzend Mal erzählt. Man könnte meinen, du wärst noch ein kleines Kind wie Flora, ein Rauling «, ganz bewusst benutzte sie den Ausdruck seiner Sprache, »das nichts auf Dauer im Kopf behalten kann.«
»Ein Rauling - ich? Das bin ich schon lange nicht mehr«, widersprach er augenblicklich. »Aber ich höre diese Geschichte immer wieder gern. Besonders aus Eurem hübschen Mund.« Jetzt grinste er so schelmisch, dass sie ebenfalls lächeln musste. Dann wurde er wieder ernst. »Ich werde niemals vergessen, was Ihr für mich getan habt - und für Leilah.«
Beide schwiegen und dachten an die regnerische Dämmerung, in der man sie zu Grabe getragen
Weitere Kostenlose Bücher