Pforten der Nacht
schwärmten; es war ein heißer August mit sonnigen Tagen und klaren, sternenerfüllten Nächten. Langsam gingen sie auf die Klosterpforte zu.
»Welche Bitte meinst du?«
»Dass du wieder mit den anderen Mönchen singst!«
»Aber ich singe doch«, widersprach Johannes, »jeden Tag viele Male! Zur Prim, Terz, Sext, immer, wenn wir unsere Herzen im Gebet zu Ihm erheben.«
»Schon! Ich weiß. Jedoch nur innerhalb der Klostermauern. Und das sollte sich rasch ändern. Du hast eine wunderschöne Stimme, ein Geschenk des Allmächtigen, das nicht allein dir gehört, sondern dazu da ist, um andere zu berühren und zu erheben. Und ich weiß, die einfachen Menschen da draußen brauchen Trost in diesen Tagen, in denen so schreckliche Nachrichten sie beunruhigen, so böse Sorgen sie quälen. Einen Halt, wenn sie sich schwach und hilflos fühlen. Wo anders sollten sie ihn finden als in Gottes eigenem Haus? Vermittelt durch die Diener Christi? Außerdem stehen wir doch alle in Seiner Hand. Viele unserer Brüder in Italien hat schon die Pest dahingerafft. Und es gibt Gerüchte, dass auch in Frankreich die Klöster entvölkert sind. Wer weiß, wie lange die Güte des Allmächtigen uns hier noch vor der Seuche bewahrt!«
Bruno blieb stehen. Sah Johannes fest an.
»Es geht nicht nur um dich. Das hast du doch verstanden, oder? Es geht um viele«, sagte er. »Um alle. Die gesamte Schöpfung. Das ist die Liebe, von der Franziskus gesprochen hat. Die bedingungslose Liebe, nach der du, nach der wir alle streben sollten. Was ist, mein Sohn, kann ich mit dir rechnen?«
Die Antwort kam zögernd, aber sie kam. »Ja, das kannst du.«
Esra war seit mehr als zwei Monaten in Richtung Norden unterwegs. Hatte, nachdem er aus seiner Starre erwacht war, die ihn nach Noahs Begräbnis überfallen und tagelang gelähmt hatte, das Haus auf Torcello vernagelt und die Mesusa, die traditionellen Segenssprüche, von David del Ponte einst in glücklichen Zeiten eigenhändig an der Haustür angebracht, abgerissen und eingesteckt. Er trug wenig Gepäck bei sich und sah aus wie die anderen Schalantzjuden, Vaganten ohne festen Wohnsitz, die ständig umherreisten. Bei näherem Hinsehen freilich hätte auffallen können, dass seine Kleidung aus besserem, wettergeeignetem Stoff war; dass er nur bei guter Witterung unter freiem Himmel schlief und sonst eher in den wenigen noch bewirtschafteten Gasthäusern entlang seiner Route übernachtete; dass er so gut wie nie feilschte, sondern ohne Murren für Essen und Unterkunft hinlegte, was immer man verlangte. Auch sah man ihn nirgendwo singen oder die Laute schlagen, obwohl er aus gutem Grund ein solches Instrument mit sich führte. Zudem reiste er allein. Erkundigte sich einer nach dem Verbleib seiner Familie, genügte sein trauriges Gesicht, um weitere Fragen schnell abzuwiegeln.
Allerdings hatten die wenigen lebenden Menschen, denen er auf seiner Reise begegnete, andere Sorgen, als sich um jüdische Wandersleute zu kümmern. Denn ohne es vorher auch nur ahnen zu können, hatte Esra sich mit dem schnellsten Weg über die Alpen auch für die Route der Pest entschieden, die ihre Schreckensspur von Venedig über Verona, Trient und Bozen in Richtung Brennerpass hinterlassen hatte. Kaum eine Stadt war verschont worden; auch in den Dörfern und kleinsten Weilern standen überall herrenlose Pflüge, und vielerorts war die Ernte auf den Feldern verdorrt. Furchtbare Bilder wechselten unvermittelt mit solchen tiefen Friedens: verweste Leichen in einem Bauernhaus, in wildem Haufen, als hätten sie noch im Todeskampf versucht, sich tröstend aneinanderzuklammern; ein zerbrochener Tontopf voll silberner Münzen, für den man das Loch im Garten bereits ausgehoben hatte. Brüllende Kühe, auf den Feldern umherstreunend, vor Schmerz wilden Stieren gleich, weil niemand sie mehr gemolken hatte. Selbst die Wölfe, sonst stets auf der Lauer nach weidenden Schafen, mieden die Bergtäler, in die sie furchtlos herunterkamen, als witterten sie die Gefahr. Dann wieder ein Adler, der lautlos wie ein großer, dunkler Schatten über einer einsamen Schlucht kreiste.
Allmählich wurden die Nächte empfindlich kühl, es war Mitte September, und er musste sich entscheiden, wie er es mit dem Überwintern halten wollte. Dabei hätte Esra nicht einmal genau sagen können, was ihn eigentlich vorantrieb; aber es war eine so starke, so unbedingte Kraft, dass er sich ihr ohne viel Nachdenken unterwarf. Er hatte keine Ahnung, ob er Venedig jemals
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