Pforten der Nacht
leichten Schritten vorbeigehen oder Salome eine ihrer heiteren italienischen Weisen singen zu hören. Ab und an schaute ihm David del Ponte über die Schulter, mit leisem Stirnrunzeln und jenem feinen Lächeln, das die Torheit der ganzen Welt zu verstehen und zu umarmen schien.
Immer aber war Anna bei ihm, am Morgen, am Abend, sogar wenn er mitten in der Nacht aufwachte und den eisigen Alp erneut als unerträgliche Last auf seiner Brust spürte. Er blieb dann zusammengekrümmt in seiner Bettstatt liegen, bis der Spuk vorüber war, und sprach leise mit ihr, in die erste Dämmerung hinein, die ihm Grund bot, endlich aufzustehen. Dann aß er seine Gerstensuppe, machte einen kurzen Spaziergang und schrieb, bis es wieder dunkel wurde und er in einem der Gasthöfe eine einfache Tiroler Mahlzeit und die notwendigen Becher Wein oder Bier vorgesetzt bekam, die ihm die richtige Bettschwere schenkten.
Kein koscheres Essen mehr, für das erst Recha und später Noomi so umsichtig gesorgt hatten, weder Gebetsriemen noch Schal und vor allem keine laut gesprochenen Gebete, die ihn verraten hätten. Mittlerweile konnte er sogar die Kirchen der Christen ohne Furcht betreten, ohne ein Gefühl von Scham. Äußerlich erinnerte nichts mehr an Esra ben Simon, der sich jetzt Enrico del Ponte nannte und allenthalben als venezianischer Gelehrter auf Reisen galt.
Ganz im Innersten aber, an dem Ort, der jedem Menschen nur ganz allein gehört, kam er seinem Gott, der ihm das Leben zum zweiten Mal geschenkt hatte, von Tag zu Tag immer näher.
Es war wieder so weit. Annas Brüste spannten, und ihr Unterleib fühlte sich hart und wund an. Ihr Mondfluss hatte eingesetzt, einige Wochen zu spät, was ihre nun abermals vergeblichen Hoffnungen zunächst wieder einmal bestärkt hatte. Seufzend stieg sie die Stufen zur Schlafkammer hinauf und nahm den Stapel frisch gewaschener Leinenbinden aus der Truhe, die sie aus einem unerklärlichen Schamgefühl heraus immer zum Trocknen an einem sonnigen Plätzchen im kleinen Kräutergarten aufhängte, wo sie den neugierigen Blicken der Gesellen und Nachbarn verborgen blieben. Natürlich wusste sie, dass im Viertel über Ardin und sie getuschelt wurde, dass mehr als einer unter den neidischen Zunftgenossen, der weniger Glück und Erfolg in seinem Handwerk hatte, mutmaßen mochte, Flora sei nicht seine Tochter, sondern ein Bankert, den sie, die Junge, dem redlichen alten Meister frech untergeschoben habe. Anna wusste auch, dass die Geburt eines weiteren Kindes die Schandmäuler sehr schnell zum Schweigen gebracht hätte.
Wäre es nach ihr gegangen, sie wäre längst wieder schwanger. Manchmal verspürte sie so große Sehnsucht danach, abermals einen Säugling an die Brust zu legen und mit den Fingerkuppen über den kleinen, noch nicht ganz geschlossenen Schädel zu streichen, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Es gab nichts, was sich mit dieser Empfindung vergleichen ließ, die so grenzenlos war, so schrankenlos, nicht einmal der leidenschaftlichste Liebesakt. Natürlich verriet sie ihrem Ehemann nichts davon. Sie war froh, dass Leonhart niemals ein Wort über dieses Thema verlor, obwohl seine nächtlichen Umarmungen im neu erworbenen Himmelbett, für das er dem Schreiner einen unanständig hohen Preis bezahlt hatte, in letzter Zeit etwas Verkrampftes, beinahe Verzweifeltes bekommen hatten. Es schien ihn anzustrengen, ihr beizuliegen, obwohl er es häufig und gern tat; sie spürte es an seinem Atem, der hart und unregelmäßig während des Liebesaktes ging, und im weichen Licht der Wachskerzen, auf die er nach wie vor in der Schlafkammer bestand, sah sie, wie seine Adern auf der Stirn anschwollen. Ein paarmal in den letzten Monaten war seine Manneskraft allerdings vorzeitig erlahmt und nicht einmal durch die zärtlichste Liebkosung zu erneutem Feuer zu entfachen gewesen, was sie nicht mehr als ein verständnisvolles Lächeln gekostet hatte, ihn jedoch maßlos zu erzürnen schien.
»Ich möchte dich nicht verlieren, Anna«, flüsterte er und streichelte ihren kräftigen Rücken, dem man die tägliche Arbeit im Haus ansah. »Niemals! Allein die Vorstellung macht mich elend und krank.«
»Wie solltest du?«, versuchte sie ihn zu trösten. »Ich bin dein Weib.«
»Und wirst es immer bleiben?« Seine Stimme war lauernd.
»Bis zu meinem allerletzten Atemzug.«
»Eher bis zu meinem.« Er klang bitter und ängstlich. »Ich bin bei diesem Handel leider nun mal auf der kürzeren Seite! Mein Haar wird von
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