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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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wiedersehen würde; der letzte Gang durch die ausgestorbene Stadt mit ihren schwarz verhüllten Fenstern und den vernagelten Türen war wie ein Blick in den Schlund der Hölle gewesen. Immerhin war keines der Häuser David del Pontes in Flammen aufgegangen, dessen einziger überlebender Erbe nun Esra war, und bei einer hastigen Visite des verlassenen, zerwühlten Kontors hatte er in einem unentdeckten Wandversteck noch ein paar wichtige Geschäftspapiere an sich bringen können. Außerdem trug er in seinem schäbigen Brustbeutel gute Silbermünzen und einige funkelnde Diamanten von hohem Wert; den Rest des Goldes und der Edelsteine, zu schwer und unpraktisch für eine Reise zu Fuß oder zu Pferd, hatte Esra am Fuß des Feigenbaums vergraben, ganz in der Nähe der letzten Ruhestätte von David, Salome, Jesaja, Noomi und Noah.
    Er war der Einzige, der überlebt hatte. Er hatte keine Angst davor, zu sterben, ja, mehr als einmal sehnte er in seinen einsamen Nächten den Tod sogar herbei. Seltsame Träume quälten ihn, in denen sich die geliebten Toten in einem wilden Reigen verbanden, ihn heranwinkten, als ob sie ihn zu sich locken würden, und sich dann wieder abwandten, bevor er bei ihnen war. Dann wieder erschien ihm seine Mutter, Miriam, die zusammen mit ihrem Mann Simon von Wegelagerern in einem Waldstück ausgeraubt und so schwer verletzt worden war, dass sie ihren Wunden schließlich erlag. Er meinte, ihre Schreie zu hören, aber konnte kein Glied rühren, um ihr zu Hilfe zu kommen.
    Und immer wieder Anna.
    Anna.
    Ihr Bild überfiel ihn, während er wanderte oder schlief, sich in einem der eisigen Gebirgsbäche wusch oder Wurzeln und Beeren sammelte, die viel zu oft auf seiner Reise Brot oder Grütze ersetzen mussten. Er hatte sich angewöhnt, lange Gespräche mit ihr zu führen, um ihr genau zu berichten, was ihm seit ihrer Trennung alles zugestoßen war. Seltsamerweise trösteten ihn diese stummen Unterhaltungen, bewirkten, dass er wieder besser schlafen konnte und anfing, regelmäßiger zu essen; dass er sich mehr um die Sauberkeit seines Körpers und seiner Kleider kümmerte. Dass er immer häufiger stehen blieb oder von seinem Weg aufsah und die Scharen von Zugvögeln bemerkte, die sich zum Flug über die Alpen sammelten; die Blätter, die sich an den Bäumen rot und golden färbten.
    Schon längere Zeit war Esra nicht mehr als Schalantzjude unterwegs. Ein Vorfall in Brixen, bei dem er Zeuge werden musste, wie man eine Schar seiner Glaubensgenossen mit Steinen und Schimpfworten aus den Stadtmauern getrieben hatte, war ihm Anlass genug zu einer neuerlichen Verkleidung gewesen. Dabei kam ihm zugute, dass die lange Wanderung über die Alpen Haar und Bart gebleicht hatte. Jenen ließ er bei einem Innsbrucker Barbier vollständig abrasieren; das Antlitz, das dahinter zum Vorschein kam, war dünner, sehr erwachsen und zeigte auf einmal verblüffende Ähnlichkeit mit Onkel Jakubs hageren Zügen. Außerdem war er entschlossen, sich durch keinen seiner Bräuche zu verraten. Und das andere, was ihn von den Christen unterschied, die Beschneidung seines männlichen Gliedes, würde, solange noch ein Tropfen Blut in ihm war, kein Lebender jemals zu Gesicht bekommen. Die ersten Bodenfröste drohten. Im letzten Jahr war der erste Schnee schon Anfang Oktober gefallen, obwohl Wetterkundige munkelten, es gäbe heuer untrügliche Anzeichen für einen ungewöhnlich milden Winter. Weshalb also nicht zumindest einige Zeit in der Stadt an jenem reißenden grünen Fluss bleiben, die sich in den Schutz der hohen Berge schmiegte?
    Er fand Unterschlupf bei einer Krämerswitwe mittleren Alters, die froh war, um gutes Geld zwei Kammern an einen Fremden zu vermieten, und sich nicht weiter darum kümmerte, womit er seine Tage verbrachte. Esra hatte damit begonnen, seine Gedanken aufzuschreiben, auf minderwertiges, vielfach abgeschabtes Pergament, das er durch Zufall bei einem Händler erstanden hatte, der wiederum auf verschlungenen Wegen vom Bibliothekar des Benediktinerklosters beliefert wurde. Die Stunden verflogen, während seine Feder auf der dünnen Unterlage kratzte oder er sie erneut ins Hörnchen mit der Rußtinte eintauchte und all die Erlebnisse der letzten Zeit wieder lebendig werden ließ, die schrecklichen ebenso wie die schönen. Manchmal kam es ihm dabei vor, als säße Noah auf seinem Schoß, mit seinem warmen, leichten Gewicht, den strampelnden Beinchen, dem munteren Krähen; dann wieder meinte er Noomi draußen mit

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