Pforten der Nacht
tatsächlich morgen wieder los?«
»Vielleicht sogar schon heute Abend. Kommt darauf an, wie schnell ich mit dem ramponierten Scheunendach vorankomme.« Er ließ eine leicht anzügliche Geste in Richtung Wasserwerkstatt folgen. »Auch wenn ich vielleicht nicht mehr der Jüngste bin, mir wagen sie jedenfalls nicht mit gepfuschten Häuten zu kommen! Außerdem stehen einige der Bauern noch ordentlich bei mir in der Kreide. Und gibt es da nicht eine gewisse Anna Ardin, die mir immer wieder predigt, ich solle weniger großzügig mit meinen Außenständen verfahren und zusehen, dass mehr Geld ins Haus kommt?«
Beide lachten. Die ungute Spannung zwischen ihnen war verflogen.
»Dann warte aber lieber ab, bis es ein bisschen kühler geworden ist«, sagte Anna, bevor sie zurück in die Küche ging, wo das Mittagessen für die Gesellen und Lehrlinge auf dem Herd gar wurde, ein großer Topf Hühnersuppe, zu der es frisch gebackenes Brot, selbst gemachten Käse und Most gab. »Diese unnatürliche Hitze mitten im Herbst setzt uns allen zu.«
»Kannst mir ja beim Dachflicken zur Hand gehen, wenn du schon so besorgt um mich bist.« Leonhart fasste sie um die Taille und zog sie eng zu sich heran. Er vergrub seinen Mund an ihrem Hals, den der heiße Herbsttag ganz feucht gemacht hatte. Die lästige Haube hatte Anna längst abgelegt. Mit ihren aufgelösten Zöpfen sah sie kaum anders aus als damals, als er sie zum Altar geführt hatte. »Oder kannst du es in Wahrheit kaum erwarten, bis ich endlich meinen Wagen bestiegen habe und dir aus den Augen bin?«
»Unsinn!« Sie machte sich schnell los. »Ich bin heute Nachmittag mit der Kleinen bei Regina …«
»Ich brauche aber keines ihrer Wundertränklein!«
»… die sich schon beklagt hat, dass sie uns so selten sieht«, fuhr Anna scheinbar ungerührt fort, obwohl ihr Herz hart gegen die Rippen schlug, weil es nur ein Teil der Wahrheit war. Sie war vermutlich die schlechteste Lügnerin der Welt, selbst wenn sie sich noch so anstrengte! »Es kann also etwas später werden. Damit du dir keine Sorgen machst.«
Sie war die ganze Mahlzeit über schweigsam, die sie im Hof im Schatten eines großen Kastanienbaums einnahmen, ein Ort, der ursprünglich dem Nachbarhaus zugeschlagen gewesen war, was Ardin allerdings an Martini des vergangenen Jahres durch eine Korrektur zu seinen Gunsten in den Schreinsrollen hatte ändern lassen. Anna war es nicht recht gewesen, so viel Geld für ein in ihren Augen heruntergekommenes Gebäude auszugeben, Leonhart jedoch war nicht von seinem Plan abzubringen gewesen. »Wir brauchen mehr Platz, um verschieden große Felle auf dem Trockenboden aufzuspannen. Nur so bekommen wir auch wirklich gewinnbringende Aufträge. Außerdem möchte ich nicht, dass du mir im Halbdunkel wie eine Primel eingehst. Eine schöne Rose wie du, Anna, braucht ausreichend Licht und Sonne.«
Und Liebe, dachte sie trotzig, während sie ihn beim Essen beobachtete, wo er seine Manieren oftmals vergaß, vor allem Liebe! Er leerte schon den zweiten Mostkrug. Suppe war in kleinen Nestern in seinem Bart geronnen, der längst gekürzt gehört hätte, und das genüssliche Schmatzen, das er an den Tag legte, wenn ihm etwas besonders gut schmeckte, konnte sie heute ebenfalls kaum ertragen. Die Liebe eines schönen, jungen Mannes und nicht die eifersüchtigen Tätscheleien eines Greises, der seine Schwäche in der Bettstatt mit Geschenken und Prahlereien wettmachen muss!
Sie war ungerecht, und sie wollte es sein. Alles in ihr vibrierte voller Ungeduld. Am liebsten hätte sie Flora in der Obhut der alten Hedwig gelassen und wäre gleich ihrem Ziel entgegengestürmt, aber sie musste warten und stillsitzen, um den Schein zu wahren. Leonhart war ohnehin schon misstrauisch genug. Sie brauchte ihm nicht noch Zunder zu liefern, um seine schwelende Eifersucht wieder einmal zu entflammen. Als ob es einen realen Anlass gäbe! Nicht einmal ihre Gedanken und Träume sollten ihr vermutlich allein gehören. Ein bitteres Lachen drängte sich in ihre Kehle, und als es ausbrach, warf ihr mehr als einer der Gesellen erstaunte Blicke zu. Und wenn schon! War sie in diesem Haus nicht Frau Meisterin und damit keinem der Männer hier am Tisch etwas über ihr Tun und Lassen schuldig?
Sie zerrte Flora hoch, die sich über die schlechte Laune ihrer Mutter wunderte. Inzwischen ein hübsches, aufgewecktes Mädchen von sechs Jahren, verfügte sie über ein Mundwerk, das keinen Augenblick stillstand. Sie war groß für ihr
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