Pforten der Nacht
Beinahe, als hätte Beelzebub ihn persönlich mit seiner Gabel angestochen. Oder als sei ein Dämon in ihn gefahren. Er hat noch Euren Namen gerufen, ich hab’s genau gehört. ›Anna, Anna. Meine Anna!‹ Und dann - nichts mehr. Nur noch dieses furchtbare Klatschen!« Sie barg das Gesicht in ihren schwieligen Händen. »Mein Lebtag werde ich es nie mehr vergessen können.«
In Annas Kopf schwoll das Singen der Weiden, vermischt mit Esras zärtlicher Stimme, die sie soeben im Wachtraum vernommen hatte, zu einem gewaltigen Höllenchor. Der Schädel drohte ihr zu zerspringen.
»Nein, Micha! Nein!« Sie presste die Hände gegen die Schläfen und schrie, so laut sie nur konnte.
Trotz der reichlichen Gabe von Johanniskraut, das ihr eine Vertraute regelmäßig aus der Apotheke der Beginen besorgen musste, hatte sich Bela van der Hülst nie mehr ganz von der Niederkunft ihres letzten Sohnes erholt. Dabei war der kleine Felix, vor drei Jahren in einer stürmischen Martininacht nach schmerzhaften, nicht enden wollenden Wehen geboren, ein wahres Gottesgeschenk: anmutig, mit blitzenden, wasserblauen Augen und hellblonden, stets zerzausten Locken. Immer in Bewegung, ein Wildfang auf rundlichen Beinchen, nimmermüde, die ganze Welt zu erkunden, die ihm freilich überall wesentlich aufregender und interessanter vorkam als innerhalb des nicht gerade beengten väterlichen Besitzes. Schon die Amme, die man rasch bestellen musste, weil Belas Milch bereits nach wenigen Tagen versiegt war, erlag seinem Liebreiz und stillte ihn voller Liebe und Hingabe, als sei er ihr eigenes Kind.
Jetzt, wo er größer geworden war, gab es gleich zwei Mägde, die für sein Wohl verantwortlich waren, junge, ein wenig törichte Bauernmädchen, die sich ohne Murren in ihre schweißtreibende Aufgabe fügten. Felix gelang es mühelos, sie von früh bis spät auf Trab zu halten, weil er sich mal wieder weigerte, sein Essen anzurühren, und es stattdessen lieber auf dem Stuhl verschmierte, er keine Kleidung tragen konnte, die nicht schon nach wenigen Augenblicken schmutzig oder zerrissen war, oder er gerade mit seinem Lieblingsspiel Verstecken beschäftigt war.
Trotzdem liebten ihn alle im Haus, denn er besaß ein Lächeln, das jeden zum Schmelzen brachte, vor allen anderen jedoch den gestrengen Jan, seinen Vater, der dieses Kind geradezu vergötterte. Felix war ein Engel für ihn, ein Idol, ein Wesen, nicht ganz von dieser Welt. Manchmal konnte er kaum fassen, dass Belas verblühter Körper dieses Wunder hervorgebracht hatte, dass sie ihm schließlich doch noch geschenkt, wonach er sich so sehr gesehnt hatte. Felix war sein Neubeginn, sein Kapital auf die Zukunft! An und mit ihm würde er all das wiedergutmachen, was bei den anderen beiden Söhnen so gründlich misslungen war. Deshalb störte es ihn auch nicht, dass der Kleine noch keinerlei Anstalten machte, richtig zu sprechen, sondern sich ein paar einfacher Silben bediente, was ihm vollkommen zu genügen schien.
»Das wächst sich aus!«, sagte Jan lachend und schwang Felix über seinen Kopf, bis er rot anlief und vor Vergnügen laut kreischte. »Zum Großwerden hat mein schöner, kleiner Mann noch genügend Zeit!«
Seltsamerweise hatte die Geburt des Jüngsten die Eheleute nicht näher zusammengebracht, sondern endgültig entzweit. Nur in Felix’ Gegenwart wechselten sie gelegentlich überhaupt noch ein Wort miteinander; sonst verschanzte Bela sich im frisch aufgestockten dritten Geschoss des Hauses, wo sie sich auch die Mahlzeiten servieren ließ und viele Becher des schweren Malteserweins leerte, der angeblich gut gegen ihre Melancholie sein sollte. Bekam man sie überhaupt einmal außerhalb der schützenden häuslichen Mauern zu Gesicht, erinnerte sie eher an eine schwarze Witwe denn an die glückliche Mutter eines kleines Sohnes. Sie war fett geblieben nach der Niederkunft, plump und träge, was sie mit schweren, raschelnden Seiden und vielen Tüchern nur notdürftig kaschieren konnte; dafür schien ihr Gesicht abgezehrt und bleich, und sogar das ehemals prachtvolle Haar hatte allen Glanz verloren. Einzig Felix gelang es ab und zu, ihre Düsternis für kurze Momente zu vertreiben. Er liebte sie, so wie er jeden liebte, der gut zu ihm war. So und nicht anders hatte er das Leben bislang kennengelernt, dem er sich jeden Tag aufs neue ohne Vorbehalt entgegenstürzte.
»Mamam«, brabbelte er, legte seine kleine Stirn in sorgenvolle Falten und streichelte zart ihre Wangen. »Mamam!« Er kroch auf
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