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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Alter, rank und schlank.
    »Ich komm ja schon!«, sagte sie und beobachtete, wie Anna Ardin zum Abschied geistesabwesend die Wange zum Kuss hinhielt. »Lass mich los, Mama, du tust mir weh! Und bringst du mir etwas mit, Papa? Ich hätte so gern ein kleines weißes Kaninchen!«
    Er lachte, strich ihr übers Haar und versprach, sich darum zu kümmern. Anna schien es so eilig zu haben, dass sie sich nicht einmal nach ihm umsah.
    Sie hatten den ganzen Sommer unter der anhaltenden Schwüle gelitten; aber selbst an warmen Herbsttagen wie diesem war die Luft im Gerberviertel schwer erträglich. Lohe, Salze und Alaune verbanden sich zu stechendem Gestank, und es war nicht zu verbergen, dass in den Gruben Tier- und Menschenurin nach wie vor in reichlichem Maß eingesetzt wurde, um neben Tran, der kaum weniger intensiv roch, die Häute geschmeidiger zu machen. Es wurde etwas besser, als sie die Bäche hinter sich gelassen hatten. Flora wollte unbedingt einen Abstecher zum Fluss machen, Anna aber ließ sich nicht erweichen.
    »Du kannst Regina fragen, ob sie dich in den Garten mitnimmt«, sagte sie, um Floras Betteln ein Ende zu machen. Inzwischen hatten sie beinahe die Glockengasse erreicht, die höher lag. »Ich kann ohnehin nur kurz bleiben, weil ich noch etwas Wichtiges vorhabe.«
    »Wohin gehst du? Ans Wasser? Dann will ich aber mit!«
    Anna blieb die Antwort schuldig, und Flora fragte lieber nicht noch einmal nach. Es war nicht das erste Mal, dass die Mutter sie bei Tante Regina zurückließ. Sie liebte die Stunden im Konvent, das Singen der Beginen, das gleichmäßige Geräusch ihrer Webstühle. Alle waren freundlich zu ihr, streichelten sie, steckten ihr Naschwerk zu. Außerdem gab es da Viva, Reginas eigenwillige Katze, an der sie ganz besonders hing. Sie wollte auch eine Begine werden, wenn sie erst einmal erwachsen war!
    An der Pforte wurden sie von Regina empfangen.
    »Du siehst abgehetzt aus«, sagte sie und musterte Anna scharf, »und müde noch dazu. Fehlt dir etwas? Du trinkst doch jeden Monat den Frauenlobtee aus Himbeerblättern und getrockneten Hirtentäscheln, den ich dir extra bei Vollmond gemischt habe?«
    »Natürlich«, erwiderte Anna und kam sich keinen Deut älter vor als das kleine Mädchen, das damals erwischt worden war, als sie heimlich etwas von den weichen, weißen Oblaten in Reginas Kammer stibitzt hatte. Dass sie niemals etwas vor ihr verbergen konnte! »Die Mattigkeit kommt sicher nur von dieser seltsamen Hitze. Außerdem mache ich mir Sorgen. Ardin hat schon wieder über seine Brustschmerzen geklagt. Und er wird zornig, wenn er in unsrer Bettkammer zu schnell einschläft. Ich hoffe nur, es ist nichts Ernsthaftes!«
    »Ich müsste ihn mir mal genauer ansehen. In seinem Alter sollte man vorsichtig sein«, sagte Regina. »Und du gefällst mir ebenfalls ganz und gar nicht, so blass und verschwitzt, wie du bist. Ich denke, du brauchst dringend ein bisschen Zeit zum Ausruhen. Soll ich dir Flora nicht später nach Hause bringen? Ich habe ohnehin im Gerberviertel zu tun.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Anna unschlüssig. Dann fiel ihr ein, was Leonhart wohl dazu sagen würde, wenn sie ohne das Kind zurückkäme. »Nein, das brauchst du nicht. Es wird nicht lange dauern. Und bei dir ist sie ja in allerbesten Händen.«
    Sie verabschiedete sich so schnell, dass es fast einer Flucht gleichkam. Und tatsächlich lief sie davon, vor diesen wissenden grünen Augen, die bis auf den Grund ihrer Seele schauen konnten, dieser leisen, beherrschten Stimme, die jeder Ausrede auf die Schliche zu kommen schien. Sie musste sich tatsächlich beeilen, wollte sie die Zeit nicht vergeuden. Den Weg hinunter zum Fluss hätte sie auch mit verbundenen Augen gefunden. Schon seit Längerem hatte sie ihre stummen Zwiesprachen mit Michael wieder aufgenommen, allerdings nicht mehr in Sankt Gereon, wo zwar die hölzerne Engelsstatue stand, die sie liebte, aber auch die Stimme eines gewissen Mönchs erklingen konnte, dem sie nicht mehr begegnen wollte, solange sie lebte. Deshalb rief sie Micha lieber im Freien und genoss es, seine unsichtbaren Flügel zu spüren, während sie dem schnell fließenden Wasser zusah.
    Aber wenn sie ehrlich zu sich selbst war, waren es nicht nur der Fluss und ihr toter Zwillingsbruder, sondern auch die Erinnerung an Esra, die sie so machtvoll hierherzog. Sie nahm ihr Umschlagtuch ab und legte es als Unterlage auf das Gras, löste die Haube und schüttelte ihr Haar, das er so zärtlich berührt hatte. Dann

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