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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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streckte sie sich aus und schloss die Augen.
    Sonnenstrahlen trafen ihre Lider. Ein goldenes Netz mit funkelnden Tropfen entspann sich. Farben explodierten. Sie lag ganz ruhig, zwischen Wachsein und Traum, warm, fast schwebend, wusste eine ganze Zeit nicht mehr genau, wo sie sich eigentlich befand. Da war sie, seine vertraute, liebevolle Stimme, die in letzter Zeit immer wieder zu ihr sprach, obwohl sie wusste, dass er im fernen Venedig weilte und sie ihn vermutlich niemals mehr wiedersehen würde!
    »Anna«, meinte sie zu hören, »Anna. Meine Anna!« Aber es war wohl nur der Wind, der durch die Sträucher strich und ihr diesen Streich spielte.
    Esra ist weit fort, unerreichbar, ohne richtigen Abschied, und Johannes hat seinen Frieden gefunden, dachte Anna nicht ohne Bitterkeit. Er ist seit Langem da, wo er immer sein wollte: bei Gott. Er braucht keine anderen Menschen mehr. Aber was ist mit mir? Wo gehöre ich eigentlich hin? Und zu wem?
    Am liebsten wäre sie niemals mehr aufgestanden, nie mehr zurückgekehrt in die engen, stinkenden Gerbergassen, in das Bett des alten Mannes, dem sie angetraut war, um größere Schande zu vermeiden, und der von Tag zu Tag immer zänkischer und anspruchsvoller wurde. Aber sie wusste genau, sie würde doch zurückgehen. Um Floras willen. Und weil sie ihm ihr Wort gegeben hatte.
    Der Wind frischte auf, brachte die Weiden zum Singen, und Anna überließ sich ihrer feinen Melodie. Während sie zuhörte, vollzog sich ganz allmählich eine Wandlung in ihr. Die harten Gedanken zerstoben, und mit ihnen löste sich der Trotz in ihrem Herzen auf, den sie gegen Leonhart gehegt hatte. War es denn seine Schuld, dass sie den anderen nicht vergessen konnte? Dass sie sich an Bilder und lautlose Stimmen klammerte, weil der dazugehörige Mensch aus Fleisch und Blut für immer unerreichbar für sie war?
    Ruhe senkte sich über sie; sie fühlte sich aufgehoben und getröstet. Nach einer Weile öffnete sie die Augen und setzte sich auf. Die Sonne stand inzwischen schon tiefer und verriet die Kühle des nahenden Abends; sie war dankbar für das Schultertuch und setzte die Haube auf, wie es sich gehörte. Der Weg zurück zum Beginenhaus kam ihr kürzer vor. Vielleicht, weil ihre Beine sich wie von selbst bewegten. Ihr Geist war leicht und frei, die Bitterkeit von vorhin verflogen.
    Natürlich hatte ihr Regina die passenden Kräuter gegen Ardins Unwohlsein gemischt; Wiesenkümmel zur Beruhigung, Liebstöckel, um die Melancholie zu vertreiben, und Selleriekraut, das, wie sie schmunzelnd und ganz nebenbei bemerkt hatte, bei regelmäßiger Einnahme in warmem Honigwasser die Manneskraft bestens kräftigen konnte. Sie trug das Bündel in der einen Hand, in der anderen einen Beutel mit einigen Fläschchen des bewährten Mittels gegen Wanzen- und Flohbisse, von dem nie genug im Haus sein konnte. Flora neben ihr träumte laut von dem lieben weißen Kaninchen, das der Vater ihr bestimmt von seiner Reise mitbringen würde.
    Sie waren kurz vor dem Haus »zum Bogen«, als Anna stutzte. Eine große Menschenansammlung drängte sich auf der Gasse. Sie beschleunigte ihren Schritt; ihre Handflächen wurden feucht. Hedwig kam ihr mit bleichem Gesicht und verweinten Augen entgegengestürzt.
    »Gut, dass Ihr endlich da seid!« Die Stimme erstarb ihr. »Wir haben schon nach Euch suchen wollen.«
    »Was ist geschehen?« Ein eisiger Finger berührte Annas Herz.
    »Meister Leonhart!«, presste die alte Magd hervor. »Er …«
    »Was ist mit ihm? Rede!«
    Aber Hedwig blieb stumm, deutete nur in Richtung Tor. Anna drängte sich an ihr vorbei. Dort, wo sie vor wenigen Stunden das Mittagsmahl unter der Kastanie verzehrt hatten, lag Ardin bewegungslos auf einem offenbar rasch herbeigeholten Haufen alter Lumpen, das Bein quer, den Kopf in einem merkwürdigen Knick verdreht. Die Augen halb offen.
    Sie kniete neben ihm nieder und berührte sein Haar, das dunkel von geklumptem Blut war und auf einmal an gebleichtes Stroh erinnerte.
    »Er ist tot.« Sie konnte selber kaum fassen, wie ruhig ihre Stimme klang, beinahe, als ob sie einer Fremden gehöre. Wie in Trance schloss sie seine Lider. »Er ist tot«, wiederholte sie ungläubig. »Tot!«
    Flora brach in lautes Schluchzen aus. Die umstehenden Gesellen und Nachbarn machten betretene Gesichter.
    »Vom Dach gefallen.« Hedwig weinte hemmungslos. »Auf einmal fasste er an seine Brust und fing an, wie ein Besessener umherzutaumeln. Vor, zurück und wieder vor. Ein schrecklicher Tanz!

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