Pforten der Nacht
entschließen mussten, ihre sonst eifersüchtig verteidigten Wasserstellen für die Allgemeinheit freizugeben. Das entspannte die innerstädtischen Verhältnisse für den Augenblick; was freilich geschehen sollte, falls das trockene, sonnige Wetter bis weit in den Herbst hinein andauern würde, konnte keiner mit Bestimmtheit sagen. Auf den engen Gassen der Stadt jedenfalls stank es schon jetzt bestialisch, da hier ebenfalls an kostbarem Nass zur Beseitigung des täglich anfallenden Unrats gespart wurde. Zwar hatte man eine lange Liste von Vorschriften für Färber, Gerber und alle weiteren wasserverarbeitenden Handwerke erlassen, und die Goldgräber, Kölns Latrinenarbeiter, waren gehalten, jeden anzuzeigen, der wagte, seine Fallgruben auch jetzt noch vorschriftswidrig zu leeren. Trotzdem gab es noch immer genügend Unbelehrbare, die mit Schmutz, Abwässern und Fäkalien so nachlässig verfuhren, wie sie es von jeher gewohnt waren. Zahlreiche Krankheiten grassierten deshalb in der Stadt, Wurmkoliken, die besonders den Säuglingen und Kleinkindern zu schaffen machten, dazu das ganze Spektrum an Erbrechen und Darmleiden, das vor allem diejenigen befiel, die ohnehin schwach und gebrechlich waren.
Man munkelte, die Ernte werde verheerend ausfallen, was sich schon jetzt auf die Getreide- und Brotpreise auswirkte, die nach oben schnellten wie kaum jemals zuvor. Dazu kam die wetterbedingte Knappheit an Obst und Gemüse. Die, die es sich leisten konnten, sammelten eifrig Vorräte an, um für den Ernstfall gerüstet zu sein, was die Situation für die vielen Schlechtergestellten und vor allem die ganz und gar Mittellosen noch heikler machte. Ein Übriges tat der unaufhaltsame Flüchtlingsstrom, der sich Tag für Tag nach Köln ergoss, ungeachtet der zahlreichen Edikte und Verbote, die der Rat wöchentlich aufs Neue erließ, um der Menschenmassen auch nur halbwegs Herr zu werden. Trotz aller Strafandrohungen jedoch gab es nach wie vor reichlich Möglichkeiten, sie zu umgehen, jede Menge unübersichtlicher Schlupflöcher, um ihnen auszuweichen.
Und es wurden nicht eben weniger, die in die große Stadt am Rhein kamen. Aus allen möglichen Städten und Orten des Reiches waren sie aufgebrochen, teilweise sogar von jenseits der Grenzen: Heimatlose, von der Pest ihrer ganzen Familie beraubt; Handwerker auf der Suche nach einem neuen Meister, weil der alte an der Seuche gestorben war; Kaufleute, die nach Möglichkeiten suchten, um gerade in Krisenzeiten wie jetzt ihre Waren erst recht gewinnbringend loszuwerden; ungezähltes Bettelvolk, Männer, Frauen und Kinder, die sich dem Strom angeschlossen hatten, in der Hoffnung, hier auf mildtätige Barmherzigkeit und daher locker sitzende Börsen zu stoßen.
Und natürlich Juden.
Die jüdische Gemeinde Kölns hatte an die zweihundert neue Mitglieder unterzubringen, die den Verfolgungen in ihren Heimatstädten mit dem blanken Leben entronnen waren. Sie mussten essen, trinken, sich halbwegs frei bewegen können; brauchten Arbeit, vor allem jedoch ein sicheres Dach über dem Kopf, um das Schreckliche, das sie gesehen und erlitten hatten, wenigstens einigermaßen zu überstehen. Keine jüdische Familie in Köln, die nicht einige von ihnen aufgenommen hätte. Alle rückten enger zusammen, teilten Wein und Brot miteinander, durchsuchten die Truhen nach abgelegter Kleidung, die man an die Flüchtlinge abgeben konnte. Sogar in der Synagoge schliefen Nacht für Nacht ein paar junge Männer, wozu Jakub sich nach langem innerem Ringen schließlich entschlossen hatte. »Jetzt herrschen nun mal besondere Umstände«, sagte er und wiegte bedeutungsvoll seinen mageren Kopf. »Und niemand wird das besser verstehen als Gott.«
Niemals zuvor waren die traditionellen Gebete inbrünstiger vollzogen worden, besonders am Sabbat, denn es stellte sich heraus, dass dies neben dem christlichen Sonntag der bevorzugte Tag war, an dem die meisten der Pogrome begonnen hatten. Trotzdem wuchs die Angst unter den hiesigen Kindern Israels mit jedem strahlenden Morgen, der neue, entsetzliche Nachrichten bringen konnte. Nach Straßburg, wo man bereits im Februar alle ansässigen Juden gemetzelt und verbrannt hatte, waren es im März Baden, Rheinfelden und Braunschweig, im April Bruchsal, Deidesheim, Rottweil, Meiningen und eine nicht enden wollende Reihe weiterer Städte, die sich dem gnadenlosen Wüten anschlossen. Im Mai erreichten dreißig Juden aus Würzburg mit letzter Kraft die Tore Kölns, die einzigen
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