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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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kein Spiel mehr war. Dann aber drängte er Johannes unsanft zur Seite, packte sie, drehte sie auf den Rücken und zog sie ans Ufer, während sie sich wehrte, überraschend kraftvoll um sich schlug und ihm beinahe entglitten wäre.
    Dort lag sie eine ganze Weile, heftig atmend, bis endlich wieder Farbe in ihr blasses Gesicht zurückkehrte.
    »Johannes!« war ihr erstes Wort. »Esra!« ihr zweites.
    Sie war unter einem Baum gebettet, ihr Bauch gesprenkelt vom Schatten kleiner Äste. Irgendwann griff sie nach dem Kleidchen, das achtlos irgendwo im Gras lag, und bedeckte sich notdürftig, als sei sie mit einem Mal ihrer Nacktheit gewahr geworden. Auch die Buben schielten nach ihren Kitteln, aber keiner wollte sich die Blöße geben und den Anfang machen. Ihre Zähne schlugen aufeinander, aber sie sprach trotzdem weiter.
    »Versprecht mir, dass ihr niemandem etwas davon erzählt«, verlangte sie kategorisch. Ihre Lippen waren so blau, dass Esra sie schon damals am liebsten wieder rosig geküsst hätte. Er versuchte, nicht auf ihre rundlichen Schenkel zu schauen, auf die noch kindlichen Hüften, die schon sanft geschwungen waren, den noch unbehaarten Hügel zwischen ihren Beinen. Johannes schien es nicht viel anders zu gehen. Wie ein Besessener biss er auf einem Grashalm herum und wandte sich halb ab. »Vater nicht. Hilla nicht. Auch Guntram nicht. Und erst recht nicht Regina.«
    Die beiden nickten eifrig. Sie wussten, dass Annas Großmutter Thekla im Rhein ertrunken war und seitdem in der Familie Windeck das strikte Verbot galt, keines der Kinder dürfe sich dem Fluss auch nur nähern.
    »Und jetzt will ich richtig schwimmen lernen«, forderte sie weiter. »So schnell wie möglich! Bis der Sommer zu Ende ist, muss ich es können!«
    Sie schwamm wie ein Fisch, als es kühl wurde und der Herbst kam. Seitdem hatte sie keine Angst mehr vor dem Wasser. Gab es überhaupt etwas, was ihr Angst machen konnte?
    »Lass mich, Johannes, ich muss noch die Suppe fertig würzen!«
    »Sei doch keine Spielverderberin, Anna! Außerdem muss ich bald fort, falls nicht ein Wunder geschieht. Nach Italien. Zu einem dieser Krämer. Um so zu werden wie all die anderen Beutelschneider, die das Paradies für immer verloren haben.«
    Sie war nicht allein. Er war bei ihr!
    Nässe kroch von unten in seine Stiefel. Es war klamm und kalt, ein trüber, feuchter Wintertag und nicht der gleißende, unbeschwerte Sommer ihrer Kindheit. Esra fröstelte, nicht nur wegen des ungemütlichen Wetters. Sein erster Impuls war gewesen, einfach hineinzugehen und sich zu den Freunden zu gesellen wie früher. Als sei nichts geschehen. Hatten sie nicht ihr Blut gemischt und sich dabei feierlich geschworen, immer füreinander dazusein?
    Aber irgendetwas in Annas Tonfall hielt ihn davon ab. Er blieb, was er war: der heimliche Lauscher vor der Tür. Einer, der eben doch nicht dazugehörte, der ausgeschlossen war.
    »Fort? Das darfst du nicht!«
    »Nein?« Johannes lachte bitter. »Wer sollte meinen Vater schon daran hindern? Du kennst ihn doch!«
    »Ich natürlich! Ich!«
    »Und weshalb?« Sein Tonfall bekam etwas Lauerndes. »Was würdest du machen, wenn wir uns nicht mehr sehen könnten? Wenn ich beispielsweise ein Mönch würde?«
    »Das darfst du ebenso wenig!«
    »Und weshalb?« Sein Ton war drängender geworden. »Sag es mir, Anna!«
    »Weil ich sonst …« Eine längere Pause. »Weil ich sonst nämlich sterbe.«
    »Du stirbst nicht, Anna. Du bist so viel stärker als ich.«
    »Unsinn!«
    »Doch, das bist du! Du bist mutiger als Esra und ich zusammen. Komm her, ich will dich spüren!«
    Eine Weile blieb es still. Wieso hatte er seinen Namen erwähnt?
    »Wie warm du bist!« Anna sprach als Erste und klang ganz anders als sonst. »Und wie gut du riechst!« Sie lachte gickelnd. »Pass auf! Nein, nicht da, das kitzelt fürchterlich!« Esra erinnerte sie an eine gurrende Taube. Dachte sie mit keinem Gedanken an das, was er erleiden musste? »Und da schon gar nicht. Ich warne dich! Wenn du nicht sofort damit aufhörst, fällt mir noch die Terrine mit der heißen Brühe aus der Hand, und Hilla fängt zu toben an. Außerdem ist es mir ernst mit dem, was ich vorhin gesagt habe. Todernst. Und das weißt du ganz genau.«
    Er fasste sie an! Trank er auch ihren Atem? Johannes traute sich, das zu tun, wovon er seit Langem nur zu träumen wagte!
    Esras Magen krampfte sich zusammen. Annas Stimme hatte nicht geklungen, als ob es ihr unangenehm sei. Ihr Tonfall war vielmehr rau gewesen,

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