Pforten der Nacht
fast schon lockend. Wie schon so oft musste er an die Blicke denken, die sie Johannes zuwarf, forschend, nachdenklich, voller Sehnsucht. Und es waren längst nicht nur Blicke. Sondern auch scheinbar zufällige Berührungen, selbst wenn er danebenstand. Aber was geschah dann erst, wenn sie allein waren? Wenn Johannes gerade einmal nicht davon träumte, ein Mönch zu werden?
Vorstellungen, giftige Fantasien, die ihn halb wahnsinnig machten. Er besaß nur seine Vermutungen, seine Zweifel und Ängste, und die waren schlimm und peinigend genug. War es, weil er Jude war und der andere Christ - wie Anna? Dass er nicht der Nachkomme eines großen Handelshauses war, sondern der Sohn des Pfandleihers, der jetzt bei seinem Onkel, dem frommen Rabbiner, aufwuchs und niemals eines ihrer Handwerke erlernen konnte, egal, was er auch anstellen würde?
Manchmal war er überzeugt, dass es vor allem daran lag. Dann erfüllte ohnmächtige Wut sein Herz, und er begann wieder an allem zu zweifeln. Später, wenn er zur Ruhe gekommen war, sagte er sich, dass Anna nicht so war. Nicht so sein konnte. Dass sie ihn verstand, dass sie ihn gern hatte.
Aber nicht so wie Johannes.
Denn eines stand inzwischen für ihn fest: Zwischen den beiden vollzog sich etwas ohne Worte, das ihn ausschloss und sehr einsam machte. Manchmal zog er sich zurück und ging ihnen tage-, ja wochenlang aus dem Weg. Erst wenn er es nicht mehr aushielt, suchte er wieder ihre Nähe und gesellte sich dazu, als sei alles wie immer. Weil er nicht anders konnte. Weil er sich sonst noch verlorener fühlen würde.
Sein Stolz, mit dem er sich sonst so brüstete? Unerheblich. Er war bereit, ihn zu vergessen. Wenn das der hohe Preis war, den es zu bezahlen galt, war er willens, es zu tun. Alles hätte er dafür gegeben, alles, um nur ein einziges Mal an Johannes’ Stelle zu sein!
»Die ersten Gäste sind sicherlich gleich da.« Sie seufzte tief auf, als sei sie soeben aus einem seligen Traum erwacht. »Es ist besser, wenn du jetzt gehst. Aber du kommst wieder, ja? Du kommst doch morgen wieder? Ein bisschen früher vielleicht, damit wir ungestört sind?«
Johannes’ Antwort konnte nur ein Flüstern sein, denn Esra verstand keine einzige Silbe. Angestrengt beugte er sich vor. Durch das Pergament sah er nur zwei verzerrte Silhouetten, die sich langsam einander näherten, bis sie zu verschmelzen schienen. Sein Herz schlug aufgeregt gegen die Rippen.
Küssten sie sich? Fuhr er mit beiden Händen durch ihr weiches Haar?
Er ertrug es nicht einen Augenblick länger. Esra drehte sich um und lief wie von Hunden gehetzt zurück zur Synagoge, wo seit Stunden all die Bücher vergebens auf ihn warteten, die er allmählich zu hassen lernte.
Sie war kaum in den Gassen des Färberviertels angelangt, als ihr schon in die Nase schlug, was sie am liebsten nie mehr gerochen hätte: der widerliche Gestank nach Verwesung und Urin, in den man die Häute zur Enthaarung gelegt hatte, nach Tran, mit dem man Leder und Stoffe gleichermaßen behandelte. Dazu kam das laute Gehämmer der Walkmühlen, das Klatschen nasser Tuche auf Stein, Geräusche, die sie aus früher Kindheit kannte. Hier, im Südwesten der Stadt, hatte man von alters her all jene Handwerke angesiedelt, die nicht nur viel fließendes Wasser für ihre Arbeit brauchten, sondern die auch die feineren Wohngegenden im Nordosten nicht mit ihren Ausdünstungen belästigen sollten.
Ein Netz schmalerer und breiterer Bäche durchschnitt die engen Gassen mit den aneinandergebauten Häusern, die mangels Grundfläche hoch in den Himmel ragten und mit ihren vorkragenden Geschossen und provisorischen Erkern eher kläglich gegen die räumliche Beschränkung ankämpften. Keine der zahlreich erlassenen städtischen Bauvorschriften hatte solche Bauten bislang wirkungsvoll zu verhindern gewusst; zwang man einen Eigentümer zum Abriss, entstanden gleich nebenan bereits die nächsten. Hier lebten und arbeiteten die Wäscher, Gerber, Färber, Bleicher und Filzhersteller, und die mal tieferen, dann wieder seichten Rinnsale vor und neben ihren Häusern und Werkstätten trugen Namen wie Weschbach, Rotgerberbach, Duffesbach und schließlich eben Blaubach. Letzterer so genannt, weil sein Wasser bisweilen beinahe vollständig die Farbe des blauen Waids annahm, Kölns wichtigstem und meistverbreitetem Pflanzenfarbstoff.
Eine harte Arbeit, die auch bei großem Fleiß und viel Geschick nur geringe Erträge brachte und die jene, die sie tagtäglich bei jedem
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