Pforten der Nacht
Wetter ausführten, auslaugte und frühzeitig altern ließ. Deshalb hatte Regina auch niemals verstanden, weshalb ihre Schwester Sophie, die jeden angesehenen Handwerker hätte haben können, ausgerechnet den mürrischen Färber Hermann Windeck geheiratet hatte, der nichts als unausgegorene Träume im Kopf hatte. Damals wie heute träumte ihr Schwager vom schnellen Reichtum und von der großen Schicksalswende, aber keines seiner Gebete war bisher erhört worden, kein einziger seiner ehrgeizigen Pläne bislang aufgegangen. Was ihn nicht eben heiterer stimmte. Manchmal erinnerte er sie in seinem schweigsamen Groll, den er gegen alle und jeden zu hegen schien, an ihren Vater, der ebenso wenig geredet, dafür aber umso mehr geflucht und geschlagen hatte. Immer wenn das geschah, ersann sie irgendeine Ausrede, um Anna wenigstens für ein paar Stunden aus dem heimischen Dunstkreis zu lösen und ihr zu zeigen, dass die Welt auch ganz anders aussehen konnte.
Vielleicht, dachte Regina, die ihre Röcke raffte, um auf den überfluteten Wegen nicht bis über die Knöchel nass zu werden, weil sie - wenngleich auch aus anderen Gründen als ich - alles daran gesetzt hat, um dem Elternhaus zu entfliehen und damit der unerbittlichen Herrschaft von Niklas Brant zu entkommen, für den wir Töchter kaum mehr als Lasttiere, Prügelobjekte und unnütze Esser waren. Wie hätte Sophie auch ahnen können, dass es nach ihrer Heirat für mich noch unerträglicher werden würde - bis zu jenem unglückseligen Tag, an dem schließlich die Katastrophe passierte, an deren Folgen ich bis zum allerletzten Atemzug leiden werde?
Sie atmete tief durch. Das Tuch um ihre Schultern war schwer von Nässe. Ihre Schläfen schmerzten. Noch immer war es schwierig für sie, in das Haus zurückzukehren, das einst ihrem Vater gehört hatte und in dem nach Sophies Tod nun die neue Familie Windeck lebte, doch trotzdem zwang sie sich ab und an regelrecht dazu, um das bedrückende Gefühl von Ohnmacht, das sie noch immer an seiner Schwelle überfiel, nicht überhand nehmen zu lassen.
Regina pochte energisch gegen die Haustür, die ein verblasster blauer Schwan zierte, das Symbol, das auch dem Wirtshaus gegenüber seinen Namen gegeben hatte. Es dauerte eine Weile, bis Hilla aufmachte, die heulende kleine Agnes hinter sich herziehend. Ihren Töchtern wahrhaft keine liebevolle Mutter, wie die Besucherin nicht zum ersten Mal dachte. Sie war nachlässig frisiert und hatte offenbar seit ein paar Tagen weder das Kind noch sich selbst übermäßig mit Wasser traktiert. Essensreste klebten zwischen ihren Zähnen, und die Schürze, die sie über ihr formloses Kleid gestreift hatte, trug Spuren von Teig und Schmutz. Der Gegensatz zu ihrer schönen, reinlichen Schwester Sophie, die viel zu früh im Kindbett hatte sterben müssen, hätte größer nicht sein können.
»Welch seltener, hoher Besuch!«, sagte die Maulwürfin spöttisch. Annas Spitzname für sie passte trefflich. Die Nase war zu lang für das Gesicht, der Mund breit, mit fleischigen Lippen, so dunkelrot, als seien sie mit Kermesbeeren frisch eingefärbt. Sie kniff die Augen zusammen, weniger aus Unsicherheit, als vielmehr um ihre mangelnde Sehschärfe zu verbessern. »Deine geliebte Nichte allerdings hat heute ausnahmsweise keine Zeit für dich. Sie kocht gerade Suppe. Drüben. Mit der Magd.« Sie wies mit dem Arm quer über die Straße. Dort lag der »Schwan«, ein niedriges Holzgebäude mit einem großen, länglichen Gastraum. Rauch quoll aus dem Schornstein. Regina erinnerte sich an die enge, unsaubere Küche, aus der sie bei einem früheren Besuch rasch geflohen war, und unterdrückte eine passende Entgegnung. »Abend für Abend werden es mehr Gäste. Ich arbeite bis zum Umfallen. Jedenfalls, so lange ich das noch kann. Wenn das Kind erst einmal da ist, müssen wir über neue Möglichkeiten nachdenken.«
Keine eigentliche Neuigkeit für Regina, die inzwischen hinter Mutter und Kind in der Stube angelangt war. Auch hier war der Ern, wie man den Ziegelestrich in Köln nannte, schmierig und mit allerlei Unrat bedeckt. Agnes bekam ein Schälchen mit kaltem Brei vorgesetzt und stellte prompt ihr schrilles Weinen ein; Hilla bediente sich großzügig aus dem Mostkrug, der stets bereit stand, ohne ihrem Gast etwas anzubieten.
Ihr Elternhaus, schon immer eng und verwinkelt, aber zu Theklas Lebzeiten stets sauber gefegt und gelüftet, war unter Hillas lustlosem Regiment regelrecht verkommen. Man roch die Armut noch
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