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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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Wasser. Sein Ziel, so hatte die Kleine ihr anvertraut, war es, einen jener merkwürdigen Apparate zu konstruieren, mit denen sich die Zeit messen ließ. Lea, die alle aufregenden Geschichten liebte, hatte ihn ermuntert, ihr davon zu erzählen. So weit, so gut. Aber was hatte ein nahezu ausgewachsener Mann bei einem Kind zu schaffen, selbst wenn er zehnmal eng mit Esras Freundin Anna verwandt war.
    »Ich wusste, dass etwas Schlimmes passiert sein muss! Vermutlich träume ich deshalb schon seit Nächten so schlecht.« Sie stellte den Wasserkrug dazu und einen zweiten mit dem koscheren Wein, den sie von einem Glaubensgenossen im Umland bezog.
    Es war einige Zeit her, seitdem Salomons Onkel Josef ben Mose zum letzten Mal in seiner alten Heimatstadt gewesen war. Er war merklich älter geworden; sein vormals brauner Bart schimmerte jetzt beinahe grau, und das früher dichte Haupthaar war stark gelichtet. Reisemantel und Stiefel waren lehmverkrustet, seine Bündel durchnässt. Es goss seit mehr als zwei Wochen ohne Unterlass, und die unablässige Feuchtigkeit saugte sich in den Kleidern fest, kroch unter die gewalkten Umhänge und tropfte in die Schuhe, bis alles klamm und eklig war. Auch jetzt sah der Himmel über Köln aus, als spanne sich ein triefend nasses, tief hängendes Tuch von Horizont zu Horizont. Sogar die Rheinschifffahrt hatte man wegen Hochwasser eingestellt, die Straßen waren überflutet. Daher hatte Josef für die Strecke dreimal so lang wie sonst gebraucht.
    Lange Jahre hatte er der jüdischen Gemeinde Köln mit seiner Heilkunst geholfen und sich nur auf das Drängen seiner Frau Ruth, die unbedingt in der Nähe ihrer einzigen Tochter und Enkelin leben wollte, schweren Herzens schließlich zu dem Umzug ins Elsass entschieden. Die schwere Krankheit seines Bruders Daniel hatte ihn hergeführt, aber Recha wusste genau, dass das nicht der einzige Grund für sein Kommen war. Er bedankte sich förmlich, als sie ihm frisches Wasser über die Hände goss, die er über das Tischbecken hielt, und lobte die Reinheit und Frische des Handtuchs, mit dem er sich abtrocknete.
    Er sprach ein kurzes Gebet. Danach begann er zu essen, langsam, beinahe feierlich.
    Recha wartete gerade die ersten Bissen ab. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. »Erzähle!«, bat sie. »Aber ganz genau. Und lass bloß nichts aus. Allein der Gedanke daran macht mich schon halb verrückt.«
    »Siehst du nicht, dass er fast am Verhungern ist«, sagte Jakub. »Warum lässt du ihn nicht erst einmal in aller Ruhe zu Ende kommen?«
    »Ach, lass sie nur! Ich kann beides zugleich«, erwiderte Josef, »essen und reden. Und genießen natürlich dazu. Nicht einmal in Straßburg gibt es viele Köchinnen, Recha, die mit dir mithalten können.« Er deutete eine kleine Verneigung in ihre Richtung an.
    »Dann rede endlich!«, forderte sie ihn barsch auf, war aber angesichts seines Lobes vor Freude doch errötet. »Was ist passiert?«
    »Erinnert ihr euch noch an König Armleder?«, fragte Josef und trank seinen Becher aus. »Jenen schrecklichen Kerl, der sich selber prahlerisch Judenschläger genannt und vor vier Jahren mit seinen Bauernrotten in Franken, Schwaben und der Steiermark gewütet hat?«
    »Natürlich«, erwiderte Jakub. »Wer könnte vergessen, was er unserem Volk angetan hat? Zehn Familien sind vor seinen Mordbrennern hierhergeflohen, acht weitere nach Trier, sechs nach Worms. Seitdem ist der Platz im jüdischen Viertel richtig knapp geworden, denn das Schöffenkolleg weigert sich strikt, uns außerhalb des ummauerten Bezirks neue Häuser kaufen zu lassen, egal, wie viel wir dafür bieten. Armleders Gräueltaten waren erst der Anfang. Ihm folgte jener obskure Ritter Hartmann auf dem Fuß, der zusammen mit den Räten und Bürgern Deggendorfs über die Juden der Stadt hergefallen ist. Man hatte das Gerücht eines Hostienfrevels ausgestreut …«
    »Ähnliches ist auch jetzt wieder bei uns im Elsass geschehen«, unterbrach ihn Josef. »Es gibt da einen Gastwirt, der sich Johann Zimberli nennt und gezielt schändliche Lügen verbreitet über blutende Hostien, angeblich von Juden entweiht, und geschlachtete Christenkinder. Er hat eine ständig wachsende Anhängerschar um sich versammelt, Tagelöhner, Räuber, verarmte Bauern, nichts als Gesindel, jedoch schwer bewaffnet. Niemand von uns ist mehr sicher, wenn er auf jenen Haufen trifft, egal, ob Mann, Frau oder Kind. Rund um Straßburg haben sie bereits mehr als ein Dutzend Menschenleben auf dem

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