Pforten der Nacht
geworden, das strohblonde Haar sorgsam mit einem Tuch aus der Stirn gebunden, und die dunklen Augen leuchteten. Sie trug ein einfaches Kleidchen im schlichten Beginengrau, das allerdings mit einem kleinen Spitzenkragen am Hals verziert war, saß kauend in einer Ecke der guten Stube am Spinnrad und ließ mit erstaunlicher Geschwindigkeit hellen Flachs durch ihre Finger gleiten. Neben ihr stand ein großer Korb mit schrumpeligen Äpfeln, aus dem sie sich offenbar ungeniert bediente; auf dem langen Tisch unter dem Fenster eine Schale mit frischem Schmalzgebäck, Krapfen, Kringel und Schnecken, wie sie traditionsgemäß in den letzten Tagen vor Beginn der vorösterlichen Fastenzeit überall in der Stadt gebacken wurden. Ein friedliches, fast alltägliches Bild, beinahe, als hätte sie schon seit jeher hier gewohnt.
Annas Laune verschlechterte sich.
»Habt ihr sie etwa in eure Gemeinschaft aufgenommen?«, erkundigte sie sich halblaut bei Regina. »Und ich dachte immer, dafür muss man mindestens achtzehn sein und außerdem eine saftige Mitgift bezahlen.« Ihr Ton war ungewohnt scharf.
Regina sah ihre Nichte nachdenklich an. »Sollten wir sie vielleicht zurück auf die Straße jagen, damit sie sich als Nächstes eine Lungenentzündung holt?«
Der Januar war kalt und ungewöhnlich schneereich für die Region gewesen; der Februar etwas milder, dafür jedoch wie schon der ganze Spätherbst sehr feucht. Wochenlang Regen, ein trüber, schwerer Himmel, der die Stadt in eine riesige Waschküche verwandelte. Wieder war der Rhein gestiegen, wieder drohte Hochwasser, obwohl die Schneeschmelze noch nicht einmal eingesetzt hatte. Die letzte Ernte war knapp ausgefallen; Ungezieferscharen und schlimme Unwetter hatten die sonst üblichen Erträge von Roggen, Weizen und Gerste um ein gutes Drittel dezimiert. Demzufolge kletterte der Brotpreis, und fast überall gingen allmählich die Lebensmittelvorräte zu Ende.
Zudem litt ganz Köln unter einer Plage aggressiver Rattenscharen, die sich entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit tagsüber auf Beutesuche begaben und, wie es schien, sich aus Futterneid sogar gegenseitig angriffen. Goldgräber, wie der Kölner Volksmund die Latrinenarbeiter spaßeshalber nannte, fanden Hunderte ihrer übel zugerichteten Kadaver in den Rinnsteinen und Abtrittgruben. Bald schon liefen böse Gerüchte um, die räudigen Nager würden Schwache und Kranke mit scharfen Bissen verletzen und Säuglinge in ihren Wiegen attackieren. Bänkelsänger zogen umher und verbreiteten landauf, landab die Schauermär eines zerfetzten Kinderleibs, dem die hungrigen Bestien bei lebendigem Leibe das Herz herausgefressen hätten. Wenngleich bislang auch niemand in der Stadt Augenzeuge solch schrecklicher Vorfälle gewesen war, so genügten diese und ähnliche Geschichten doch, um viele in Angst und Schrecken zu versetzen. Zumal das Ende des Winters erfahrungsgemäß ohnehin die Zeit im Jahr war, in der die meisten starben.
Jetzt hatten die Beginen mit dem Herrichten der Toten alle Hände voll zu tun. Ein schlecht entlohntes Geschäft, das der Rat ihnen seit einigen Jahren aufgezwungen hatte, weil niemand anderer es freiwillig übernehmen wollte, und ein undankbares noch dazu. Immer öfter weigerten sich Hinterbliebene zu bezahlen. Manchmal streuten sie zudem Verleumdungen aus und unterstellten den Leichenwäscherinnen, sie hätten sich an der Habe der Toten bereichert oder sogar dafür gesorgt, dass es schneller zu Ende gehe. Regina war froh, dass ihr Konvent neue, lukrative Klöppelaufträge von geistlicher Seite erhalten hatte und damit zumindest bis auf Weiteres von diesem schwierigen Dienst befreit war.
»Die Schwestern und ich sind übereingekommen, sie zumindest so lange bei uns wohnen zu lassen, bis es deutlich wärmer geworden ist«, fuhr sie fort. »Dann werden wir gemeinsam beratschlagen, was weiter mit ihr geschehen soll. In der Zwischenzeit bringen wir ihr ein paar einfache Arbeiten bei. Kann ja schließlich nicht schaden, wenn sie zumindest spinnen und weben lernt. Sicherlich besser für ihre Zukunft, als mit der Bettelschale vor dem Dom herumzusitzen.«
»Und meinen Namen schreiben«, rief Ursula. »Ich liebe es, wenn die Feder so lustig über das Papier kratzt!«
»Du unterrichtest sie!« Jetzt wusste Anna plötzlich, wie das brennende Gefühl in ihrer Brust hieß, das sie quälte. Nichts anderes als reinste Eifersucht. Sie schickte zornige Blicke in die Ecke.
»Es kann gar nicht genug Mädchen und Frauen geben,
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