Pforten der Nacht
schimmern sah. Und sie verfügte über etwas, was nur wenige ihres Standes und Alters auszeichnete: natürliche Anmut, Würde und Stolz - weit über ihre Jahre hinaus.
Wieder spürte sie das vertraute Ziehen in der Herzgegend. An ihr würde sie versuchen gutzumachen, was ihr bei der Schwester nicht gelungen war. Sophies qualvolles Ende hatte sie nicht verhindern können. Ebenso wenig den Tod des männlichen Zwillings, in aller Eile auf den Namen Michael getauft, nachdem man ihn mit der Zange gewaltsam dem Mutterleib entrissen hatte.
Noch heute stand alles so lebendig vor ihren Augen, als sei es erst gestern gewesen und nicht vor beinahe sechzehn Sommern: die sommerliche Schwüle in der engen, überhitzten Kammer, Sophies Wimmern, ihre Schreie, das Blut überall, dunkle Flecken auf dem Laken, den Tüchern, dem Boden, dazu das laute Jammern und Wehklagen einer angetrunkenen, viel zu jungen Hebamme, durch die Steißlage des zweiten, schwächeren Säuglings überfordert und vor Angst und Unwissenheit halb aufgelöst … der bittere Trank aus Stechapfel und Bilsenkraut, der ihrer Schwester wenigstens gegen Ende zu gnädige Bewusstlosigkeit geschenkt hatte … und schließlich Hermanns wütendes, verzweifeltes Gesicht, als er gewahr wurde, dass das Mädchen und nicht wie erhofft der Bub überlebt hatte …
Sophie war noch in derselben Nacht gestorben, ohne ihre kleine Tochter jemals in die Arme genommen zu haben. An ihrem Grab hatte Regina geschworen, sich um Anna wie um ihr eigenes Kind zu kümmern und mit allen Kräften zu versuchen, ihr ein schlimmes Schicksal zu ersparen.
»Du weißt, dass dein Vater dich verheiraten will?«
»Ach, das meinst du!« Anna zuckte lustlos die Schultern. »Ich kann es schon nicht mehr hören!«
»Hilla hat ihn so weit gebracht. Es scheint ernst zu werden. Du weißt auch, wer dein Bräutigam werden soll? Leonhart Ardin, ein verwitweter Gerber …«
»Das hätte ich mir denken können! Weshalb verschachert Hilla mich nicht gleich an einen Abdecker?«
Die Begine ließ sich nicht beirren. »Ein rechtschaffener Mann, soviel man hört. Meister mit annähernd zehn Gesellen, kinderlos und stattlich dazu. Mit gutem Leumund und nicht unvermögend. Aber viele Jahre älter als du. Kennst du ihn?«
»Und wenn schon!« Annas Augen glühten. »Ich glaube, er hat ein-, zweimal mit Vater im ›Schwan‹ getrunken. Ein Greis mit gierigen Augen und einem grauen Bart! Ist mir ohnehin vollkommen egal. Soll ich dir auch verraten, weshalb? Er wird sich nämlich beizeiten in Luft auflösen wie all die anderen Bewerber bisher auch. Sag selber: Wer nimmt schon eine Färbertochter zur Frau, die nicht einmal hübsch ist und nur einige Ballen Barchent, zwei Fässer Bier und ein paar Bündel Flachs als Mitgift bekommt? Nicht einmal ein stinkender Löher, der den ganzen Tag zwischen grünen Häuten schafft oder auf seinem Trockenboden herumkriecht, ist so dumm!«
»Deines Gesichts brauchst du dich wahrhaft nicht zu schämen«, erwiderte Regina. »Und deines Körpers erst recht nicht.« Selbst im Sitzen sah man, wie biegsam die Taille war, wie wohlgeformt die Hüften unter dem schäbigen Kleid. Brennende Röte überzog Annas Wangen, als die Tante unbekümmert ihren Busen musterte, Regina aber redete weiter, als merke sie nichts davon. »Das Wichtigste von allem aber ist dein Herz. Und das strahlt hell wie ein Stern. Der Mann, der dich zur Frau bekommt, ist ein ausgemachter Glückspilz.«
Sie stand auf, schloss die Truhe auf und wieder zu und kam mit einer Pergamentrolle zurück.
»Allerdings schadet Besitz als zusätzliche Dreingabe zu Schönheit und Tugend wohl kaum. Außerdem macht er frei. Ich hatte in meinem Leben herzlich wenig Gelegenheit, mich zu entscheiden. Deshalb möchte ich, dass zumindest du wählen kannst.«
»Was ist das?«, fragte Anna beklommen. »Was hältst du da in der Hand?«
»Eine Schreinskarte. Darauf ist verzeichnet, welchen Grundbesitz man hat. Eine Abschrift davon liegt wohlverwahrt beim Schöffenkolleg. Damit alles seine Richtigkeit hat. Roll sie auf. Aber bitte vorsichtig. Und jetzt lies mir vor, was da steht!«
Angestrengt starrte das Mädchen auf das Pergament, das mit einer roten Säulenarkade eingefasst und mit gelben Canontafeln bemalt war. »Ich war in letzter Zeit wohl wirklich zu oft hinter Hillas Töpfen«, sagte sie schließlich bitter. »Mein Latein ist ganz eingerostet.«
»Aber deinen Namen findest du doch noch, oder?« Reginas Zeigefinger tippte auf eine Stelle in
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