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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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ihre Nähe gesucht, obwohl sie ihn nicht berühren konnte, ohne sofort ganz steif dabei zu werden. Irgendwann war es dann vorbei gewesen. Seitdem fürchtete sie sich vor seinem bohrenden Blick.
    Was wusste er? Was konnte er erfahren haben?
    Nicht das Geringste, versuchte sie sich immer wieder zu beruhigen. Alle, die eingeweiht gewesen waren, waren inzwischen tot. Thekla, Niklas, Sophie. Nur Hermann war noch am Leben. Und vor dem hatten sie damals alles sorgsam verborgen. Trotzdem blieb diese Unsicherheit Guntram gegenüber, die unversehens in eisige Ablehnung umschlagen konnte.
    Hätte er die gespaltene Lippe nicht gehabt, die sein Gesicht entstellte und unweigerlich die Blicke aller Fremden auf sich zog, er wäre ein anziehender junger Mann gewesen. Die Nase zierlich und gerade, die Wangenknochen hoch angesetzt. Helle Augen, die ins Grüne changieren konnten, wenn er wütend wurde; ein dichter brauner Schopf. Und er besaß die langen, schlanken Hände seines Vaters, mit denen Niklas anderen so großen Schmerz zugefügt hatte. Finger, die eigentlich zum Hantieren mit feinen Instrumenten geeignet waren. Die jetzt aber rissig und aufgeschürft waren, rau von Beize, Salzen und dem Umgang mit Alaunen.
    Aber da war dieser unförmige Wulst, der alles beherrschte, die Wunde an seinem Mund, dunkelrot, geschwollen, die niemals richtig verheilt war. Jetzt eine breite, aufgeworfene Narbe, die ihn von Kind an zu einem verschlossenen Einzelgänger gemacht hatte. Sie konnte ihn nicht anschauen, ohne an das erste Mal zu denken, als sie ihn erblickt hatte, ein Bündel mit geballten Fäusten und verzerrtem Gesicht: unter Pein und Tränen, gejagt von einer Angst, die all ihre Glieder gelähmt, von einer Scham, die sie beinahe um den Verstand gebracht hätte.
    Und die schon bald darauf das Leben ihrer Mutter gekostet hatte.
    »Na, etwa schon wieder hungrig?«, herrschte ihn die Maulwürfin an. Sie gab sich keine Mühe, auch nur halbwegs freundlich zu dem Bruder ihrer verstorbenen Vorgängerin zu sein. Ganz im Gegenteil, der kräftige Junge mit der Hasenscharte, über die alle im Viertel tuschelten, flößte ihr ausgesprochenes Unbehagen ein. Wäre er nicht eine so gute, zuverlässige Arbeitskraft gewesen, sie hätte längst dafür gesorgt, dass Hermann ihn für immer vor die Tür setzte. »Oder was treibt dich sonst so früh nach Hause?«
    »Wir brauchen frisches Krapp«, erwiderte er knapp. Sie war erstaunt, wie deutlich er inzwischen sprach. Es musste ihn viel Mühe gekostet haben, die Missbildung so auszugleichen. Offenbar hatte er den Rat befolgt, den sie ihm gegeben hatte: sich mit einem Kieselstein im Mund neben den Wasserfall zu stellen und gegen sein Rauschen anzuschreien. »Der verdammte Stoff nimmt die Farbe so schlecht an. Zwei komplette Durchgänge haben wir schon hinter uns. Und der Zwilch ist noch immer nicht richtig rot geworden.«
    »Hinten im Schuppen …«, begann Hilla.
    »Ich weiß«, unterbrach er sie mürrisch. »Kann denn Anna nicht beim Tragen helfen?« Wie so oft in letzter Zeit, wenn er sie traf, vermied er, Regina direkt anzusehen.
    »Kann sie nicht«, erwiderte Hilla bestimmt. »Sie ist im ›Schwan‹ und hat alle Hände voll zu tun. Soll ich vielleicht alles alleine machen? Außerdem«, sie warf einen raschen Blick auf seine muskulösen Arme und den breiten Rücken, »bist du wohl stark genug dafür. Kein Wunder, bei der Menge, die du jeden Tag vertilgst! Davon könnten normalerweise mindestens zwei Männer spielend satt werden.«
    Schweigend stapfte er hinaus. Kurze Zeit später hörte man sein lautes Stöhnen auf dem Hof. Die hintere Tür stand angelehnt; durch einen Spalt sah Regina, wie er sich unter der überbordenden Last mühte, die er sich auf den Buckel gepackt hatte. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Plötzlich hätte sie am liebsten seinen gebeugten braunen Kopf berührt und gestreichelt. Er wirkte so einsam, so beladen, beinahe verloren.
    »Warte, ich helf dir, Guntram«, wollte sie unwillkürlich rufen, »das ist doch viel zu schwer für einen allein!«
    Aber kein einziges Wort kam über ihre Lippen. Stattdessen starrte sie schweigend und mit pochendem Herzen auf den gebeugten jungen Mann, der sich schwankend und nur quälend langsam aus dem Tor in Richtung der Bäche bewegte.

Drei
    Der kleinen Ursula ging es wieder gut, erstaunlich gut sogar, und Anna schämte sich, dass sie bei ihrem gesunden Anblick beinahe so etwas wie Verdruss empfand. Das Gesicht der kindlichen Bettlerin war runder

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