Pforten der Nacht
der Mitte. »Hier muss er irgendwo stehen. Direkt unter meinem.«
»Ja. Da ist er. Anna Windeck. Aber was hat das alles zu bedeuten?«
»Ganz einfach! Dass ich das Haus in der Schildergasse auf dich hab überschreiben lassen.« Regina lächelte vergnügt. »Mein Vater hat es mir in seinem Testament vermacht, und ich gebe es zu meinen Lebzeiten als Geschenk an dich weiter. Du bist nicht länger eine arme Kirchenmaus, die man so schnell wie möglich an den Nächstbesten verschachern muss. Sondern eine begüterte Frau, die ihren Weg selber bestimmen kann. Ich möchte, dass du das niemals vergisst, Anna! Was immer auch geschieht.« Sie beugte sich zu dem Mädchen vor, sah sie eindringlich an. »Triff deine Entscheidungen, aber in Ruhe und mit Vernunft! Noch etwas mehr als zwei Jahre, und du bist achtzehn. Dann würde sich beispielsweise dieser Konvent sehr geehrt fühlen, dich aufzunehmen. Nun, was sagst du?«
»Eine Begine wie du? Ich weiß nicht so recht«, stammelte Anna. »Einerseits habe ich immer davon geträumt, aber anderseits ein ganzes langes Leben in Demut und Keuschheit …«
Sie wandte sich schnell ab. Aber nicht schnell genug.
»Wie heißt er denn?«, fragte Regina sanft. »Kenne ich ihn?«
Anna nickte. Und starrte zu Boden.
»Könnte sein Name vielleicht Johannes van der …«
»Sprich ihn nicht aus, bitte!« Anna war mit hochroten Wangen aufgesprungen. »Und selbst wenn du mir zehn Häuser vermachst - er wird mich niemals so lieben, wie ich es mir wünsche!« Schluchzend kniete sie vor Regina nieder und barg den Kopf in ihrem Schoß. »Außerdem muss er fort. Bald schon. Sein Vater schickt ihn gegen seinen Willen nach Italien. Für mehrere Jahre! Um einen Kaufmann aus ihm zu machen. Aber das will Johannes nicht. Lieber sterben, sagt er. Du solltest mal sehen, wie er dabei dreingeschaut hat! Als ob ihm der Leibhaftige erschienen wäre. Und deshalb habe ich solche Angst, dass er zuvor noch eine große Dummheit anstellt. Ach, Regina, was soll ich nur machen, damit ich ihn behalten kann?«
»Wieso liebt er dich nicht richtig? Weil er reich ist und du arm? Vielleicht wird alles anders. Jetzt, wo du ein Haus und damit selber Besitz hast.« Sie verzog den Mund, als würde ihr dieser Gedanke nicht sonderlich gefallen.
»Nein, das ist es nicht. Daraus macht sich Johannes nichts, ganz im Gegenteil, er verachtet alle Wohlhabenden. Es ist eher sein Wesen, das mir immer wieder Rätsel aufgibt. Er ist so wechselhaft, so unentschieden. Manchmal wäre es mir am liebsten, ich würde ihn niemals mehr sehen. Und trotzdem kann ich nicht aufhören, mich nach ihm zu sehnen.«
»Habt ihr zwei denn schon zusammengelegen?«, fragte Regina vorsichtig und hoffte, dass nur sie das Pochen ihres Herzens so überlaut hörte. Wenn dieses halbe Kind viel zu früh selber ein Kind bekäme! Übelkeit überfiel sie bei dieser Vorstellung. Es kann nicht sein, beruhigte sie sich selber. Das Schicksal darf sich doch nicht so grausam wiederholen!
Wie verbrannt schoss Anna nach oben. »Was redest du da? Nie! Niemals!«
»Aber geküsst habt ihr euch schon? Und liebkost?«
Der Kopf kehrte auf der Stelle wieder in den Schoß zurück und vollführte eine unentschlossene Bewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte. »Manchmal denke ich, er nimmt mich gar nicht richtig wahr«, sagte das Mädchen erstickt. »Dann sieht er durch mich hindurch, als wäre ich aus Glas, und redet wieder die ganze Zeit von diesen seltsamen Dingen, die mir Angst machen.«
»Was sagt er denn, dein Johannes?«
»Ständig spricht er vom Jüngsten Gericht, das die Büßer von den Frommen scheiden wird, vom Blut des Lammes und der Wiederkunft des Messias, die, wenn man ihn so hört, nicht mehr lange auf sich warten lassen kann …«
»Das klingt ja wie ein Klosterbruder! Hat er denn Neigung zum geistlichen Stand?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Anna gequält. »Frag mich bitte nicht! Oder warte, ja, ein paarmal hat er davon gesprochen. Neulich erst - bevor er mich umarmte. Es gibt einen Mönch hier in der Stadt, den er sehr bewundert und beinahe wie einen Heiligen verehrt. Ein Franziskaner, glaube ich. Bruno de Berck.« Es klang eher gelangweilt. Anna kam wieder zu dem zurück, was sie eigentlich bedrückte. »Manchmal strahlt Johannes, wenn er mich trifft, und will mich gar nicht mehr fortlassen. Dann wieder meidet er mich tagelang, als plage mich eine ansteckende Krankheit. Wie soll ich nur schlau werden aus ihm - und erst recht aus mir? Ich träume von
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