Pforten der Nacht
Wahl.
»Steh auf und lauf rüber zu Regina«, verlangte sie keuchend. »Nimm den Weg über St. Maria im Capitol und rede mit niemandem unterwegs ein Wort. Lass dich bloß nicht aufhalten! Mach schon, sonst werde ich …«
Die Sinne schwanden ihr.
Das Mädchen sprang auf, warf sich ein Kleid über und rannte aus der Tür.
»Mama!«, wimmerte Agnes tränenüberströmt, »Mama, sag doch bitte ein Wort!«
Aber Hillas Mund entrang sich nur ein lang gezogener Wehlaut.
Sie schob die Tür hinter sich zu, legte den Riegel vor und zerrte panisch den Küchentisch näher. Dann holte sie tief Luft und kippte ihn gegen das Fenster, dessen Läden sie zuvor verriegelt hatte. Das Gebrüll war jetzt direkt vor dem Haus, ringsumher lautes Krachen, das sie zusammenzucken ließen. Irgendetwas nebenan fiel polternd zu Boden. Hoffentlich nur ein Möbelstück!
Wo war der Junge? Wo steckte Esra?
Wütendes Pochen gegen den Fensterladen, während sie sich zitternd mit dem Tisch dagegenstemmte. Adonaj, betete sie in jagender Hast, verschone mein Haus, verschone meine Familie!
»Sie kommen, Tante, sie sind schon da!« Bleich wie ein Gespenst stand Lea auf der Schwelle. Sie hatte die Schiene nicht angelegt; mager und erbärmlich ragte ihr verkrüppeltes Bein unter dem Hemd hervor. Hinter ihr Jakub, kaum weniger erschreckt. »Werden sie uns jetzt töten?«
»Keiner tötet uns«, versicherte Recha um einiges resoluter, als ihr in Wirklichkeit zumute war. »So ein Unsinn! Und jetzt ab ins Bett mit dir - aber sofort!«
Das Mädchen rührte sich nicht.
»Jakub, bring die Kleine in ihre Kammer!«
Lautes Grölen war zu hören, wüste Schmählieder, gefolgt von weiteren Schlägen.
»Wieso nur hassen sie uns so? Was haben wir ihnen getan?« Die Augen des Mädchens waren dunkel und fragend. »Ist es, weil wir ihren Messias getötet haben?«
»Unsinn! Das ist nichts als betrunkener Abschaum«, erwiderte Jakub, so fest er konnte. »Gesindel, das sein Mütchen kühlen möchte. Denen kommen wir Juden in der Fastnacht gerade recht …«
Ein Schlag gegen die Tür, der das Holz erzittern ließ. Benutzten sie einen Rammbock?
Alle drei verstummten.
»Mach endlich auf, verdammter Jude!«, schrie einer. »Sicherlich kannst du es kaum erwarten, uns deine Schätze zu schenken - freiwillig natürlich!«
Die anderen brüllten Beifall.
»Oder willst du etwa, dass wir ein hübsches Feuerchen legen, das dir den Pelz wärmt?«
Recha warf einen langen Blick auf Jakub und das Mädchen, die sie anstarrten, als hänge alles von ihr allein ab.
Langsam schob sie den Tisch zur Seite und entriegelte die Tür.
Sie hatte sich zu spät umgedreht. Die beiden Burschen waren schon dicht hinter ihr.
»Was wollt ihr?«, fragte Anna unnötigerweise und wünschte sich, ihre Stimme würde weniger dünn klingen.
Einer war plötzlich vorn, der andere, größere, hinter ihr. Der vorne roch nach Schnaps und schwankte unmerklich. Auf seinem dunklen Haar lagen ein paar Schneeflocken. Fast staunend ließ er seine Hand über Annas heiße Stirn gleiten, zupfte an ihren Ohrläppchen und berührte den pochenden Hals.
Sie wagte kaum noch zu atmen.
»Schönes Häubchen«, sagte er langsam, riss es herunter und trampelte mit seinen Stiefeln darauf. Der Boden wurde langsam feucht. »Fast wie eine reiche, vornehme Dame.«
Sein Kumpan lachte gurgelnd und schob seine Hand unter ihren Rock.
»Hört sofort auf!« Mehr wütend als ängstlich fuhr sie herum. »Lasst mich in Ruhe! Außerdem wird mein Liebster gleich da sein. Und dann könnt ihr was erleben!«
»Dein Liebster?« Er lachte keckernd. »Das stört uns nicht!« Der von vorn hatte sie herumgerissen und fest an beiden Handgelenken gepackt. »Bis dahin sind wir schon längst mit dir fertig. Es sei denn …« Er atmete heftig.
»… du hast so viel Spaß daran, dass du uns bittest, es wieder und wieder zu tun.« Der andere machte sich an ihren Brüsten zu schaffen.
Die Angst war zurück. Grell und kalt. Anna versuchte, sich nicht von ihr verschlingen zu lassen. Sie atmete scharf ein und stieß einen lang gezogenen Schrei aus.
»Johannes! Hilfe! Hört mich denn niemand?«
Eine schwielige Hand verschloss roh ihren Mund.
»Wenn du noch einmal das Maul aufmachst, kriegst du mein Messer in die Rippen«, keuchte der Größere. »Oder einen Stein an den Schädel, dass du dich nicht mehr rührst. Hast du das verstanden?«
Etwas Hartes drückte seitlich gegen ihren Brustkorb. Ein Messer? Eine große Scherbe? Wie konnte sie
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