Pforten der Nacht
früh. Wieder einmal. Obwohl ihr Leib schon unförmig aufgetrieben, die Gelenke geschwollen waren wie kurz vor der Niederkunft. Würde sie jetzt gebären, mehr als zwei Monate vor der Zeit, könnte das Kind schwerlich überleben. Der Sohn, auf den Hermann und sie seit vielen Jahren so sehnlich warteten!
Deshalb jammerte sie nur, wenn er nicht in der Nähe war, und biss die restliche Zeit, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, die Lippen fest zusammen. Aber sie atmete unruhig, bewegte sich schwerfällig, und ihr Gesicht hatte die Farbe vergilbten Leinens angenommen. Zweimal schon war heimlich die neue Hebamme des Viertels dagewesen und bei jedem Besuch nach kurzer Untersuchung mit einem Schulterzucken und ein paar Vierlingen im Sack wieder gegangen. Sie hatte Ruhe empfohlen und vor allem Geduld, was von Hilla äußerst ungnädig aufgenommen wurde, und ein widerlich riechendes Mittel aus Krötenpulver und Gerste verabreicht, auf dessen Wirksamkeit sie schwor.
War es der braune Schatten um die Augen, der sie so elend wirken ließ? Die Muttermale, die auf einmal stärker hervortraten? Hilla sah krank aus, fast schon elend, und schien erleichtert, endlich in die Bettstatt kriechen zu können.
Und das Kind?
Anna tat das ungeborene Wesen leid, aber sie war entschlossen, die Fastnacht auf keinen Fall zu verpassen. Außerdem hatte sie es Johannes versprochen. Unten, am Rheinufer, wo die großen Lastkräne die hölzernen Arme in den Nachthimmel reckten, waren sie verabredet. Wenn die Glocken von St. Alban die zehnte Stunde schlugen.
Ihr Herz hämmerte wie wild. Ihre Hände waren feucht. Sie betastete das blaue Samthäubchen, das sie heute Abend zum ersten Mal trug. Vorher, im halbblinden Spiegel, hatte sie sich beinahe schön damit gefunden, jetzt war es ihr nur noch lästig.
Sie erkannte sich kaum wieder. Eine innere Unruhe hatte sie ergriffen, die sie nicht verstand. Und von Stunde zu Stunde wurde diese Unruhe schlimmer.
Da waren sie, die Maskenträger mit den brennenden Reifen, den hölzernen Rasseln und Schellen! Zwei gingen voran, Rummelpötte in der Hand, jene irdenen Töpfe mit den straff gespannten Schweinsblasen darüber, aus denen ein Stück Ried ragte. Nur wer kräftig zulangte, schaffte es, das unheimliche Brummen zu erzeugen, vor dem alle Kinder flugs davonstoben.
Esra war froh, dass er seine Skrupel überwunden und die Bärenmaske gestern bei einem Stand einfach hatte mitgehen lassen. Mit dem dünnen, bunten Holzstück vor dem Gesicht fühlte er sich sicherer. Niemand konnte wissen, dass er ein Jude war. Er war einer von ihnen, ein Kerl mit starken Schultern und einem kräftigen Kreuz, der seinen Kopf hoch erhoben hatte und wie viele ringsherum eine Rute trug. Es juckte ihn in allen Gliedmaßen, sich mitten unter die Menge zu mischen, die mit Johlen, Pfeifen und Schnalzen durch die Gassen lief, um in der Kühle der Nacht warm zu werden, aber noch zögerte er.
War dort drüben nicht ein schmaler Schatten gewesen? Ein lichtblaues Samtkäppchen auf offenem Haar? Aber was sollte Anna hier wollen, mitten in dieser wild gewordenen Meute, für die es keine Regeln mehr zu geben schien?
Er drehte sich um, überquerte die Straße, schaute nach links und rechts. Da waren nur die dunklen, abweisenden Fassaden der Häuser, hinter denen sich die braven Bürger Kölns in dieser Nacht ängstlich versteckten. Manche Türen waren mit Kränzen geschmückt, die meisten jedoch nackt und fest verschlossen.
Zurück zum Zug, zurück zur Männerschar, die mit dem Heischelauf aus Lärm und Feuer den Winterteufeln den Garaus machen würde! Ihm war heiß, und er fror zur gleichen Zeit.
»Holla!«, schrie er, ungeübt noch, beinahe rau. »Holla ho!«
»Holla ho!«, echote sein Gegenüber, der eine roh bemalte Luchsmaske trug.
»Holla und heißa!« Das kam von einem weiter hinten, der aussah wie ein großer, grauer, gefährlicher Wolf. »Seid ihr bereit?«
»Ja!«, grölte es aus der Menge zurück.
Wie ein einziger zuckender Leib schob sie sich vorwärts. Dem Spörkel ging es an den Kragen, dem trüben Februar, mit dem der nasse Winter, wie alle hofften, enden sollte. Wölfe, Böcke, Hirsche, Bären, Luchse, Hasen - beinahe das gesamte Tierreich war hier vertreten!
Wie ein animalisches Lebewesen fühlte auch Esra sich, witternd, aufmerksam, bis in die Zehenspitzen gespannt. Neben ihm, vor ihm, hinter ihm lauter andere mit Menschenkörpern und Tiermasken, denen es kaum anders zu ergehen schien. Trommelnd und pfeifend zogen sie
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