Pforten der Nacht
wie es der schwere Wollmantel erlaubte, lief er durch die Rheingasse und bog dann zum Heumarkt ab. Da waren sie, zu denen er am liebsten gehört hätte - die Schmiedgesellen! Die die kostbaren Uhren fertigen durften. Die, die den ganzen Tag an dem arbeiteten, wonach ihn so sehnlich verlangte.
Er kam gerade noch rechtzeitig und mischte sich unter die Leute. Die Gesellen hatten bereits die Klingen ihrer Schwerter zu einer Rose gefügt. Der Vortänzer, ein kräftiger junger Mann mit blonden Haaren, machte sich daran, sie zu erklimmen. Zwei Versuche, dann hatte er es geschafft.
Sein hübsches Gesicht glühte vor Stolz und Anstrengung, als er zu singen begann.
»Denket an den Reichen,
der in die Hölle muss,
Gott lässt sich nicht erweichen,
wie beim armen Lazarus.
Drum schlaget heut die Reichen,
damit sie Buße tun,
und lassen sich erweichen
für uns, die wenig han’.«
Die letzten beiden Strophen wurden von den anderen lauthals nachgeplärrt.
»Zur Hohen Straße!«, schrie einer. »Wo die reichen Prasser in ihren warmen Häusern wohnen!«
»Ja, sie sollen uns kennenlernen!«
»Und unsere Steine!«
Die Umstehenden lachten rau.
»Die Reichen sind die Kranken,
das weiß schon jedes Kind,
drum soll’n wir sie kurieren,
dass sie genesen künnt.
Wir tun sie flugs befreien
von allem Hab und Gut,
damit sie nicht verzagen,
und glühn in ihrer Wut.«
Jetzt war sein Gesicht nass von Schweiß, aber noch immer gelang es ihm, sich auf der Schwertrose zu halten. Er wusste, was er seinen Zuhörern schuldig war.
Und die hatten noch längst nicht genug.
»Schon schlimm genug die Pfeffersäck’,
die uns den Hals zuschnüren,
gefolgt von den Scholaren,
den Ehr und Würd’ gebühren.
Am schlimmsten doch der Jud,
der würgt und feilscht und frisst,
dem woll’n wir’s rasch besorgen,
auf dass er’s nie vergisst!«
Ein Schrei aus vielen Kehlen!
»Ins Judenviertel!« Die Menge toste.
»Zu den elenden Wucherern! Holen wir uns zurück, was sie uns so dreist gestohlen haben!«
»Stürmt ihre Mauer! Beweist ihnen, dass sie mit uns rechnen müssen!«
Kein Halten mehr. Guntram wurde mitgerissen, und ihm blieb nicht viel mehr, als die Maske fest auf sein Gesicht zu drücken, um sie nicht zu verlieren und mitzulaufen, so schnell er vermochte.
Als sie aufwachte und das klitschnasse Laken unter sich spürte, wusste Hilla, dass das Kind kommen würde. Sie hatte Angst, aber ihr Kopf arbeitete klar. Hermann war noch immer nicht zu Hause, und ausnahmsweise war sie froh darüber. Bei dem, was ihr bevorstand, konnte sie keinen Mann gebrauchen. Schwerfällig entzündete sie ein Licht, stand auf und ging langsam hinüber zu Annas Kammer. Das Mädchen war schließlich erwachsen und würde wohl wissen, was jetzt zu tun war.
Jeder Schritt eine Tortur. Die Wehen folgten schon ziemlich regelmäßig aufeinander. Aber da war noch etwas in ihrem Leib. Ein zäher, kalter Schmerz. Unbarmherzig wie ein scharfes Messer.
In dem großen Bett schliefen Barbra und Agnes, fest aneinandergeschmiegt. Annas Platz war leer.
Einen Augenblick lang hoffte sie, sich getäuscht zu haben. Dann sank Mutlosigkeit wie eine schwere, graue Wolke über sie. Das verflixte Mädchen - hatte sie es doch geahnt!
Glühende Pein durchfuhr sie, die ihr den Atem nahm.
Sie hatte wohl laut aufgeschrien, denn Barbra öffnete erschrocken die Augen, und Agnes, ebenfalls aus dem Schlaf gerissen, fing an loszuplärren.
»Ihr müsst mir helfen«, keuchte sie kraftlos und ließ sich breitbeinig auf das Bett sinken. Der Kienspan wäre ihr beinahe entglitten. »Das Kind! Es will heraus!«
Die Mädchen klammerten sich aneinander. »Muss sie jetzt sterben?«, wimmerte die Kleinere.
»Muss sie nicht, Barbla«, versuchte die ältere Schwester sie wenig überzeugt zu beruhigen. Selbst der alte Kosename blieb wirkungslos.
Hilla, schon halb benommen, schob die Schweinshaut vor dem Fenster zur Seite. Einen Moment war die frische Nachtluft beruhigend, dann begann sie zu frösteln. Überall draußen Fackelschein, Stimmengewirr, Grölen, wildes Gelächter. Konnte sie da Barbra durch das Gassengewirr zur Hebamme schicken, die sicherlich betrunken und höchstwahrscheinlich gar nicht zu Hause war? Nicht einmal auf Kati konnte sie zurückgreifen. Die feierte drüben in der Südstadt, bei ihren Verwandten.
Eine neue schmerzvolle Welle überfiel sie, und Furcht kroch ihr eisig ins Gedärm. Hermanns Sohn durfte nichts geschehen - um keinen Preis!
Ihr blieb keine andere
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