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Pforten der Nacht

Titel: Pforten der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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anderer konnte wie er verstehen, was in ihr vorgehen musste, jetzt, da auch sie zum Gespött der Leute geworden war. Wäre er fromm gewesen, er hätte Gott auf Knien für diese unvorhergesehene Entwicklung gedankt. Aber er hatte dem Gott, der seinen Mund verunstaltet hatte, längst abgeschworen.
    Er hatte Lust, laut aufzulachen, aber er beherrschte sich. Noch war Leas Brust flach, waren ihre Züge kindlich, aber die Zeit war abermals sein Freund und Verbündeter. Egal, wie lange es noch dauern würde, er hatte keine Eile! Er musste sich nur im rechten Moment ein Herz fassen und ihren Onkel bitten, sie ihm zur Frau zu geben. Er war schließlich der Retter der Familie!
    Konnte er ihm etwas ernstlich abschlagen?
    Lea schien seinen fragenden Blick misszuverstehen. Nach dem nächsten Gebet, gesprochen in einer Sprache, die er nicht verstand, beugte sie sich näher zu ihm. Ihr sanfter Atem koste ihn; er musste an sich halten, um die Hände auf dem Tisch zu lassen und sie nicht zu berühren.
    »›Wer hungrig ist, komme und esse mit uns; wer bedürftig ist, komme und feiere das Pessachfest mit uns.‹ Schön, nicht?
    Und so treffend! Wir beten auf Aramäisch, aber ich möchte, dass du es verstehen kannst.«
    »Danke«, murmelte er betreten. Sie war noch nicht einmal zwölf, und klein und dünn dazu, aber schon jetzt das schönste weibliche Wesen, dem er je begegnet war. Und das gütigste dazu. Lea war seine Gefährtin für die Zukunft. An ihrer Seite fühlte er sich stark, und alles, wovon er seit jeher geträumt hatte, würde gelingen.
    Ihre Gewitteraugen strahlten. »Ich bin so froh, dass du gekommen bist, Guntram.« Einen Augenblick lag ihre kleine, warme Hand auf seiner. »Und wir alle möchten dir von ganzem Herzen danken. Du weißt schon, wofür. Wärst du nicht gewesen, wir könnten nicht so friedlich hier miteinander feiern.«
    Jakub nickte zustimmend, und sogar die Tante rang sich ein halbes Lächeln ab. Lea zog die Hand wieder weg, aber die strenge Falte auf Rechas Stirn blieb. Was trieben die beiden da miteinander? Was hatten sie zu tuscheln?
    Sie beschloss, die Kleine genauestens darüber auszufragen, wenn der Fremde endlich gegangen war. Die einfachen Worte der Haggada, die von der Leidenszeit Israels und seiner Befreiung erzählen, brachten sie schließlich auf andere Gedanken. Und als Lea als jüngstes Kind am Tisch die Frage stellte, was diese Nacht vor allen anderen auszeichne, vergaß sie ihre Sorgen für eine Weile ganz.
    Für Guntram verflog der Abend wie im Traum. Es war warm in der Stube, fast schon stickig, und ihm schmeckten die ungewöhnlichen Speisen. Die Hasenscharte hatte er vollkommen vergessen. Das erste Fest, das er mit Jakub und seiner Familie verbringen durfte! Sicher und wohl fühlte er sich, wie zu Hause angekommen. Hier brauchte er kein Wolf zu sein, musste er nicht auf der Hut bleiben! Es gefiel ihm sogar, wenn sie ihn Guntram nannten. Selbst das Beten fand er schön, besonders, wenn Lea die überlieferten Worte sprach. Wenn ihn schon sein Gott so bitter enttäuscht hatte, warum dann nicht dem der Juden huldigen, der es offenbar gut mit ihm meinte?
    In diesen vier Wänden schien es gleichgültig, wie er aussah, was er darstellte. Er war ein willkommener Gast, und er genoss dieses Gefühl beinahe so wie Leas ungewohnte Nähe. Außerdem spürte er die vier Becher Wein in seinem Kopf. Und er bemerkte, dass Esra ihn abermals musterte. Er mochte Annas Freund, auch wenn er bisher nicht viel mit ihm gesprochen hatte. Viel lieber jedenfalls als den jungen van der Hülst, den er für einen Angsthasen und Weichling hielt.
    Sollte er ihm sagen, dass sie dem alten Gerber so gut wie versprochen war? Dass Ardin an ebendiesem Abend ins Färberhaus kommen würde, um die Verlobung festzumachen?
    Er zögerte, entschied sich dann aber dagegen. Anna würde nicht wollen, dass er sich einmischte. Und wahrscheinlich war Leas Bruder ja bereits bestens unterrichtet. Außerdem ließ ihn ein anderer Gedanke nicht mehr los, schon seit dem Fastabend.
    »Eines verstehe ich nicht«, sagte er halblaut zu ihm, »wenn eure Vorfahren schon so tapfer und mutig gewesen sind, warum lasst ihr euch dann heute alles gefallen?«
    »Weil ihr in der Überzahl seid«, gab Esra ebenso unwillig wie überrascht zurück. Wieso sprach jener aus, womit er sich innerlich abquälte? Außerdem hatte er leicht reden. Seine Hasenscharte machte ihn zwar zum Außenseiter, aber er war noch immer einer von ihnen. »Und wir wissen genau, was

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