Pforten der Nacht
atemlosem Keuchen, und er meinte, ihre Fäuste zu spüren, die hart gegen seine Rippen schlugen, hatte das namenlose Entsetzen ihrer schrillen, ungläubigen Stimme im Ohr.
Für diesen Albtraum gab es kein Entrinnen. Kein Fasten half, kein Beten, nicht einmal der Schleier der Zeit, der doch angeblich alles erträglicher machen sollte. Auch der öffentliche Bußgang durch Köln hatte nichts daran ändern können.
Die Lehrzeit bei Pandolfini neigte sich dem Ende entgegen, aber auch danach gab es keine Hoffnung für ihn. Seine Seele war unrettbar im Fleisch versunken, vor Gott und allen Gläubigen war er als Missgeburt verstoßen, und er besaß keinerlei Recht mehr, Christus darum zu bitten, er möge ihn an seiner Passion teilhaben lassen.
Und dann war da noch jemand, der ihm in den dunkelsten Momenten in den Sinn kam, wieder und wieder, wie eine Erscheinung, allein dazu erdacht, den glühenden Pfahl noch tiefer in die offene Wunde zu treiben. Der strenge Mönch mit den weißlichen Augen, der ihm Nacht für Nacht stets die gleichen Worte zuzuraunen schien.
»Der Mensch ist zu allem fähig. Dem Satan kannst du entgehen, dem Menschen nicht. Und dir selber, Johannes van der Hülst, am allerwenigsten!«
Er hatte recht, das wusste Johannes inzwischen. Mit jedem einzelnen seiner Worte, die er in bösen Träumen wie ein Verdammter empfing. Das Urteil schien bereits gefällt. Für immer an sich selbst gefesselt zu sein schien ihm die schlimmste, die auswegloseste aller denkbaren Höllen.
Es war bitter kalt in Köln, als Lea zum ersten Mal hinunter zur Mikwe stieg, ein klarer, sonniger Apriltag, wolkenlos und alles andere als frühlingshaft, aber sie spürte es vor lauter Aufregung nicht. Recha hatte sie begleiten wollen, sie aber hatte abgelehnt, wollte das Eintauchen im »Judenbrunnen«, wie die Christen den lebendigen Born hinter vorgehaltener Hand nannten, ganz allein erleben, sowie Rachel und Zuria, die Freundinnen, vor ihr. Lange genug hatte sie auf das Einsetzen des Monatsflusses warten müssen und, als es endlich so weit war, kaum einschlafen können. Inzwischen hatte sie aufgehört zu bluten. Nun kam, was die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, forderte: nicht der gewöhnliche Besuch des beheizten Dampfbades neben der Synagoge, sondern eine rituelle Reinigung für Körper und Seele.
Im Vorraum nickte sie Dinah kurz zu, die seit vielen Jahren den Dienst als Mikwenwärterin versah. Hier drinnen war es kaum wärmer als draußen. Schnell zog sie sich aus, das wollene Umschlagtuch, Schuhe, Strümpfe, das Mieder, den Rock, das Leibchen, das Unterkleid, und zögerte nur einen Augenblick, bis sie die Lederriemen der Holzschiene löste. Ab und zu, bei besonderen Gelegenheiten, legte sie das Gestell nach wie vor an, vor allem um Rechas willen, die noch immer die Hoffnung nicht aufgeben wollte, das lahme Bein könne wie durch ein Wunder wieder zu wachsen beginnen und seine frühere Kraft zurückgewinnen.
Lea kannte keine Scheu vor ihrem Körper. Gott hatte ihn ihr geschenkt, und wer wäre sie, seine großherzige Gabe zu missachten? Sie mochte, wie weiß und weich die Haut war, hatte das Knospen ihrer Brüste mit Aufmerksamkeit verfolgt, die Rundung der Hüften und das Sprießen des schwarzen Flaums unter den Armen und zwischen den Schenkeln. Inzwischen hatte sie sich auch daran gewöhnt, dass lange Wege anstrengender als früher waren und der holprige Gang zu Schmerzen in den Hüften oder im Rücken führen konnte. Dann sehnte sie sich nach den sicheren, gleichmäßigen Griffen der Tante, die sie mit süßem Mandelöl einrieb, bis der Krampf nachließ. Ihr Bein, das all die Umstände verursachte, behandelte sie wie ein ungezogenes Kind, das seinen Willen durchsetzen will, meist freundlich und nachsichtig, manchmal aber auch harsch oder aufbrausend, wenn es zu lästig wurde.
Freilich gab es andere, dunklere Tage, vor allem, wenn die anderen Mädchen im Judenviertel die Köpfe zusammensteckten und übers Heiraten zu tuscheln begannen. Lea löste die Spange, die das schwarze Haar zusammenhielt, und schüttelte die Locken, die ihr bis zur Hüfte reichten. Heute erst war es wieder so weit gewesen. Beth, Zurias zweite Schwester, gerade mal ein paar Wochen älter als sie, würde am kommenden Freitag dem jungen Isaak zur Frau gegeben, und es schien unter den jungen Mädchen des Viertels kein anderes Thema mehr zu geben: der Festzug, dem der Bräutigam voranschritt, gefolgt von Onkel Jakub, dem Rabbiner, und der Gemeinde
Weitere Kostenlose Bücher