Pforten der Nacht
mit Fackeln und Musikinstrumenten … dann das Umkehren der Musikanten, um die Braut und ihre Freundinnen zu holen … Onkel Jakub, der ihr feierlich den Bräutigam entgegenführte … das Bewerfen mit Weizen unter dem Ruf: ›Seid fruchtbar und mehret euch!‹ …
Leas Speichel schmeckte plötzlich bitter. Wenn kein Wunder geschah, würde sie diese Szene vermutlich niemals erleben. Geschweige denn das, was danach kam. An das Glück, eigene Kinder im Arm zu halten, war erst recht nicht zu denken.
»Bist du fertig?« Dinahs Stimme klang streng.
Sie nickte und fröstelte plötzlich. Jetzt hätte sie viel darum gegeben, wieder in Rechas gemütlicher Stube zu sein, nahe dem prasselnden Feuer.
»Kein Schmuck mehr?« Sie musterte Lea so eindringlich, als habe sie etwas zu verbergen.
»Nein, wir können gehen.«
Es waren fünfundsiebzig Stufen hinab in die Tiefe. Stille und Halbdunkel empfingen sie; der Wasserspiegel war unbewegt.
»Du musst ganz untertauchen, auch mit dem Kopf«, leierte Dinah herunter. »Die Arme dürfen den Körper nicht berühren. Die Augen müssen geöffnet sein, damit das lebendige Wasser überall hindringen kann …«
»Ich weiß«, unterbrach Lea sie ungeduldig und strengte sich an, nicht schon jetzt zu zittern. »Oder denkst du vielleicht, Recha hätte mich nicht längst vorbereitet?«
Ein kurzes, unwilliges Schnauben; dann zog die Mikwefrau sich seitlich zurück und hielt ein Talglicht hoch, um ja alles unter genauer Kontrolle zu haben.
Die Stufen, dem Fallen und Steigen des Grundwasserspiegels ausgesetzt, waren kühl und glitschig; Lea betrat sie langsam, um ja nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eisig berührte das Wasser ihre Waden, dann ihren Schoß, wie eine nasse, fordernde Hand, die mehr begehrte.
Und wenn die Kraft sie verließe und sie niemals mehr auftauchen würde? Mit aller Macht hinabgezogen in ein dunkles, nasses Grab?
Alle weiblichen Kinder Israels tauchen unter, wenn sie zur Frau geworden sind, sagte sie sich streng. Seit jeher. Und ab dann jeden Mond nach der Blutung oder wenn sie ein Kind geboren haben. Alle haben es geschafft. Und du bist eine von ihnen. Nicht mehr und nicht weniger. Also stell dich gefälligst nicht so an!
Sie nahm allen Mut zusammen, hielt die Luft an und machte sich ganz klein. Das Wasser schlug über ihr zusammen. Sie blieb viel länger unten, als die Vorschrift gebot, so lange, dass Dinah schon unruhig zu werden begann.
Dann kam sie mit einem erstickten Schrei wieder nach oben.
Ihr Haar war noch feucht, als sie die Mikwe verließ und ins Jerusalemgässchen einbog, um sich hinkend auf den Heimweg zu machen. Guntram, der ihr im Schutz eines Hoftors nachstarrte, wie sie das Tuch zum Schutz gegen den auffrischenden Wind enger um die Schultern zog, wusste, dass dies nur eines bedeuten konnte: Das Warten hatte sich gelohnt. Inzwischen hatte er genug über die Sitten und Gebräuche der Juden gelernt, um mehr als zu erahnen, was sich heute in der Tiefe des Brunnens abgespielt hatte. Lea war kein Kind mehr. Sie war zur Frau geworden.
Und bald, sehr bald schon vielleicht, würde sie ihm gehören.
Aufregung ließ seinen Hals ganz eng werden. Plötzlich spürte er nicht einmal das Jucken des nässenden Ausschlags an seinen Armen, der ihn schon seit dem Winter quälte und gegen den kein Kraut gewachsen, keine Tinktur erfunden zu schien sein. Am liebsten wäre er ihr nachgestürmt, hätte sie in seine Arme gerissen und wie einen Schatz zum Haus ihres Onkels getragen, um endlich das Jawort von ihm zu erzwingen, aber er wusste, er musste abermals noch etwas Geduld aufbringen. Lea würde am besten verstehen, wie klug und besonnen er vorgegangen war, später einmal, wenn er ihr endlich die schier endlose Geschichte seiner stummen Werbung erzählen würde. Er hatte Lust, aufzulachen und gleichzeitig die schwieligen Fäuste grimmig zu ballen. Als Gott die Zeit machte, hat er genug davon gemacht, sagten die Leute. Er aber hätte sie am liebsten mit eigener Hand rascher vorangetrieben, so, wie es mit der Spindel seines Chronometers geschah, die den hölzernen Zeiger schneller kreisen ließ, wenn er die Gewichte zu beiden Seiten abnahm.
Fastnacht war längst vorüber, und es hatte in diesem Jahr glücklicherweise keine Überfälle im Judenviertel gegeben. Auch Pessach war friedlich verlaufen und das Osterfest ohne Zwischenfälle gefeiert worden. Trotzdem war in ganz Köln die Situation zwischen Christen und den hiesigen Kindern Israels denkbar angespannt.
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