Pforten der Nacht
Schuld daran war ein Gerücht, das aus Worms kam und durch fahrende Leute nach Köln gelangt war. Erst noch hinter vorgehaltener Hand weitergetuschelt, schwoll es an, bis es in einen entsetzten Aufschrei mündete, dem sich so gut wie keiner zu verweigern vermochte.
Hilla hatte es vom Kotzmarkt direkt in die Stube des Färberhauses getragen und dort in voller Ausführlichkeit erzählt, nicht ohne immer wieder zwischendrin innezuhalten und Reginas jüngstem Bruder anzügliche Blicke zuzuwerfen. Schon die Freundschaft zwischen Anna und Esra hatte ihr gründlich missfallen, und für Guntrams regelmäßige Besuche im Judenviertel, über die inzwischen die ganze Zunft tratschte, brachte sie erst recht kein Verständnis auf. Sollte nicht jeder lieber da bleiben, wo er von jeher hingehörte - die Juden bei den Juden und die Christen unter sich? Man sah ja, wohin es führte, wenn man es damit nicht genau nahm! Umso genüsslicher gestaltete sie ihren Bericht, und man merkte ihr an, dass sie jedes einzelne Wort zelebrierte.
Ein junger Jude mit Namen Ariel sei in eine Kirche eingestiegen, habe dort den Tabernakel erbrochen und geweihte Hostien gestohlen. Als er mit dem Diebesgut vor seinen liederlichen Freunden prahlen wollte und eine der Oblaten durchschnitt, um sich über den christlichen Aberglauben lustig zu machen, sei ein Schwall roten Blutes dem malträtierten Leib Christi entsprungen. Er, voller Schreck, ließ alles zu Boden fallen und suchte das Weite; seitdem habe sich um die »weinende Hostie« ein kleiner Tümpel mit rötlichem Wasser gebildet, der ständig anwuchs. Den Juden hatte man bereits gefangengenommen und in der Fragstatt der hochnotpeinlichen Ermittlung unterzogen. Er habe zunächst geleugnet, beim dritten Durchgang aber, als man ihn auf die Streckbank gespannt und seine Nieren mit dem eisernen Hasen bearbeitet hatte, schließlich doch gestanden. Auf dem Schandanger verbrennen musste man ihn nicht mehr; er überlebte die Befragung nur wenige Tage, bevor er seinen schweren Verletzungen erlag.
»Das hat natürlich Folgen!« Ihr Ton war triumphierend. »Und schwerwiegende dazu! Es gibt nämlich nicht nur Leute hier in die Stadt, die diese Juden abgöttisch lieben, egal, was sie anrichten.«
Womit sie recht behalten sollte. Die allgemeine Empörung über den unerhörten Vorfall war immens und hatte längst die Wormser Region überschritten. Selbst die, die es in der Regel nicht so genau mit dem Kirchgang nahmen, waren aufgebracht; schon bildeten sich Scharen, die zum blutigen Tümpel pilgerten, um dort für die Vergebung ihrer Sünden zu beten. Wie ein Sturm verbreitete sich die Geschichte vom frevelhaften Hostienschlachten, für das man nicht den einzelnen, sondern die Gesamtheit der Gottesmörder verantwortlich machte. Diesmal war die Schuld ja noch größer, noch schwerwiegender als bei den immer mal wieder umlaufenden Gerüchten über Christenkinder, die man angeblich bei widerlichen jüdischen Riten gemeuchelt hatte. Diesmal war der Leib des Herrn und damit Gott selbst geschmäht und gemartert worden. Folglich war jedermann aufgerufen, diese Untat zu sühnen, wollte er sich nicht an dem Verbrechen mitschuldig machen.
Die Juden Kölns bekamen die zunehmend feindselige Atmosphäre vielerorts zu spüren. Zwar hatte man einen Landstreicher aus der Stadt gewiesen, der sich auf den Marktplatz gestellt und lauthals damit geprahlt hatte, er habe direkt von Gott die Weisung empfangen, alle Juden zu töten und zu brennen. Natürlich war Jakub mit einer Delegation beim Schöffenkolleg gewesen und hatte anschließend auch bei Walram von Jülich vorgesprochen. Beide hatten abgewiegelt und die Angelegenheit herunterzuspielen versucht; der Erzbischof allerdings ließ durchblicken, dass der Erwerb eines weiteren Judenregals angesichts der angespannten Lage kaum verkehrt wäre. Als Jakub im Namen seiner Glaubensbrüder um Bedenkzeit bat, weil das letzte noch ein paar Jahre gültig sei und die Einkünfte aus Geld- und Pfandleihe deutlich gesunken waren, zuckte der Kurfürst bedauernd die schmalen Brauen und entließ sie sehr rasch. Seitdem waren plötzlich in der ganzen Stadt die angeblich unerträglich gestiegenen Wucherzinsen in aller Munde, die die jüdischen Keuffer den Christen abnahmen.
Guntram, der Lea inzwischen in gebührendem Abstand bis zum Haus des Rabbiners gefolgt war, wusste so gut Bescheid, weil sie ihm alles bis ins Kleinste erzählt hatte. Noch immer war ihre Dankbarkeit gegen den mutigen Retter in
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