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Phantasie und Wirklichkeit

Phantasie und Wirklichkeit

Titel: Phantasie und Wirklichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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gedacht, daß...?»
    «Tja — vermutlich haben Sie recht.»
Morse nahm noch einmal den Brief aus der Tasche. «Wer auch immer dies da
geschrieben hat, wir sind uns doch einig, Lewis, daß er von sich behauptet, ein
ganz großer Wagnerliebhaber zu sein — oder?»
    «Genau wie Sie.»
    «Genau wie ich. Aber ihm nehme ich es nicht
ab. Und zwar deswegen —», er tippte mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo
 stand.
    Lewis schaute ihn unschlüssig an.
«Kommt mir alles recht deutsch vor, Sir.»
    Morse lächelte ein wenig. «Eben nicht,
Lewis. Das ist nämlich, falls ich das so sagen darf genau der Punkt. Es ist
kein richtiges Deutsch. Aber wenn jemand sich sein Leben lang mit etwas
beschäftigt, wenn er alles mögliche dazu liest und viel darüber nachdenkt, wenn
er es sich von Zeit zu Zeit immer wieder anhört—»
    «Wie Sie.»
    «Wie ich, ja.»
    «Ich verstehe immer noch nicht —»
    «Er kann diesen verdammten Namen noch
nicht einmal richtig schreiben!»
    «Rechtschreibfehler machen wir doch
alle mal...»
    «Was? Drei Fehler in einem einzigen
Wort? Gleich drei? Das glauben Sie doch selber nicht! Er schreibt den Namen
nämlich erstens mit anstatt mit , dann baut er vor dem
ein falsches ein, das da nicht hingehört, und den Umlaut
<ü> kennt er anscheinend überhaupt nicht —»
    «Den was kennt er nicht?»
    Morse kramte einen Bierdeckel hervor und
schrieb den Namen der Oper auf die Rückseite, wie er richtig geschrieben werden
mußte:     «Ullman ist doch Deutscher, oder
nicht?» fragte Lewis langsam.
    «Er kommt aus Deutschland, ja.»
    «Aber warum — warum ist ihm dann nicht
aufgefallen, was Sie gesehen haben?»
    «Inzwischen glaube ich fast, daß es ihm
aufgefallen ist, Lewis. Doch — ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, daß er
es bemerkt hat.»
    «Und genauso sicher waren Sie sich
trotzdem, daß man heute abend bei ihm einbrechen würde?»
    «Wenn ich mir wirklich hundertprozentig
sicher gewesen wäre, hätte ich dafür gesorgt, daß ein paar unserer Leute
schwerbewaffnet in einer Grünen Minna um die Ecke postiert worden wären.»
    «Na ja, wenigstens hat er auf diese
Weise seine ganzen kostbaren Möbel behalten können, das ist doch immerhin auch
etwas.»
    «Ja, so kann man es natürlich auch
sehen.»
    «Haben Sie auch so kostbare Möbel,
Sir?»
    «Ich? Nein. Außer einem einzigen
Familienerbstück, einem Satz Chippendale-Tischen von 1756, die man
übereinanderstellen kann. Und Sie?»
    «Nur diesen großen Mahagonischrank — so
einen Mehrzweckschrank von 1942. Wir wollten ihn letztes Jahr fortgeben, aber
offensichtlich weiß niemand mehr seine Qualität zu schätzen.»
     
    Lewis fuhr wieder zurück in den
Stadtnorden, wo Morse ihn noch einmal kurz vor Ullmans Haus anhalten ließ. Sie
sahen deutlich, wie drinnen im Salon hinter dem hellerleuchteten Fenster,
dessen Vorhänge nicht zugezogen waren, die kleine, wohlbeleibte Gestalt von
Eric Ullman vorbeiging.
    «Wenn bei dem heute eingebrochen worden
ist, will ich Theo heißen», sagte Lewis.
    Aber das, wußte Morse nur zu genau,
würde nicht eintreffen.
    «Sie können jetzt heimfahren, Lewis»,
sagte er nur. «Ich gehe das Stück zu Fuß.»
    «Sind Sie sicher, Sir? Es sind bestimmt
300 Yards.»
    «Sparen Sie sich Ihren Sarkasmus,
Sergeant!»
    «Gute Nacht, Sir.»
     
    Morse hatte seine zwei Co-op-Marken für
Halbfettmilch vor die Tür gelegt und war gerade dabei, sich ein Bier
einzuschenken — als er plötzlich ganz sicher wußte, daß etwas nicht stimmte.
Wieso hatte er denn nur den Zettel auf dem Küchentisch nicht sofort bemerkt?
     
    «Tut mir wirklich leid, Ihnen
Unannehmlichkeiten zu machen. Aber Sie hatten nichts anderes, bei dem es sich
gelohnt hätte, und ich hoffe bloß, daß ich sie einigermaßen gut verkaufen kann.»
     
    Mehr stand da nicht.
    Morse rannte die Stiegen hinauf und sah
schon auf dem Absatz das leere, nicht gesaugte Teppichrechteck, auf dem bis vor
kurzem die einzig wertvollen Möbel, die von Generation zu Generation in seiner
Familie weitergegeben worden waren, gestanden hatten, der Satz
Chippendale-Tische von 1756.
     
    Sergeant Dixon hatte Nachtdienst. «Gott
sei Dank, daß Sie an rufen, Sir. Wir haben schon versucht, Sie zu erreichen,
aber es ist niemand ans Telefon gegangen.»
    «Ich war nicht zu Hause, Mann, falls
Sie nichts dagegen haben.»
    «Natürlich nicht. Es ist ja nur, weil
bei Ihnen nämlich eingebrochen worden ist —»
    «Deshalb rufe ich doch an, um das