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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihnen gewarnt. Mehr oder weniger.«
    Ich wünschte, ich hätte ihm in die Augen blicken können, sah aber kaum mehr als seine vage Form in der Dunkelheit. Nach kurzem Zögern drehte ich mich um, presste mir das Fernrohr ans Auge – und justierte wild daran herum, sah aber nichts außer Schwärze.
    Tyler stand ganz nah hinter mir, wartete eine Weile ab, ob ich mich von selbst geschickter anstellen würde, dann griff er sanft über meine Schulter. Wir hielten das Fernglas gemeinsam.
    »Eigentlich braucht so ein Ding eine Menge Licht«, sagte er. »Du wirst also nicht viel erkennen. Auf jeden Fall musst du es vollkommen ruhig halten.«
    Ich suchte erneut nach dem Totenlicht in der Ferne und fand zumindest ein verschwommenes Schimmern. Tyler drehte behutsam am Regler des Objektivs. »Besser?«, fragte er.
    »Nicht viel.«
    »So?«
    »Etwas.«
    Sein Atem streifte von hinten meine Wange. »Und so?«
    »Jetzt wird es schärfer.«
    Dass hinter dem Horizont gerade die Welt unterging, kam mir noch immer sehr irreal vor. Nichts daran fühlte sich wahr an. Ich spürte bei dem Gedanken weder Erschütterung noch Trauer, nur Irritation. Es war, als hätte Tyler von einem Film erzählt, den er kürzlich gesehen hatte, nicht von der Wirklichkeit.
    Das Sichtfeld des Fernrohrs wurde ein wenig klarer. Leicht verzerrt und an den Rändern weiterhin verschwommen konnte ich sehen, wie Gestalten aus einem Kleintransporter gestoßen wurden. Sie waren nur als Umrisse vor der Wand aus Totenlicht zu erkennen, aber sie gingen gebeugt und schienen gefesselt zu sein. Nun wurden auch aus anderen Wagen Menschen ins Freie getrieben. Sie bewegten sich ziellos und stießen gegeneinander, wenn keiner ihrer Aufseher sie zurückhielt. Hatte man ihnen die Augen verbunden?
    »Was machen die da?«, flüsterte ich.
    Tyler stand noch immer sehr nah hinter mir. »Sieh es dir an.«
    »Rain?«, fragte Emma mit belegter Stimme. »Was passiert da drüben?«
    Ich hatte Mühe, das Fernglas ruhig zu halten. Einige Gestalten befanden sich bei der Leiche des Amerikaners, andere durchsuchten sein Lager. Zwei weitere gingen dort in die Hocke, wo wir unsere Taschen hatten liegenlassen. Sie wühlten in unseren Kleidungsstücken, zerrten sie heraus und verteilten sie über den Boden. Mir wurde bewusst, dass sie nun nach zwei Mädchen suchen würden. Nach uns.
    Trotzdem konnte ich nicht anders, als immer wieder zu dem Punkt zurückzukehren, an dem die gefesselten Menschen versammelt waren. Offenbar ließen die Lionheart-Söldner sie in einer Linie antreten und zwangen sie dazu, sich hinzulegen. Ihre Umrisse verschwanden aus meinem Blickfeld und verschmolzen mit dem Boden.
    Ich nahm das Fernglas herunter und versuchte, mit bloßem Auge etwas zu erkennen. Jetzt, da ich wusste, wonach ich zu suchen hatte, konnte ich das Gewimmel besser einordnen.
    Tyler nahm das Fernrohr und schaute hindurch.
    Emma trat noch enger neben mich, bis sich unsere Ellbogen berührten. »Was soll das werden?«
    »Sie wollen abmessen, wie weit die Wirkung reicht«, sagte Tyler. »Sie legen diese Menschen in eine Reihe, um herauszufinden, wer beim nächsten Lächeln stirbt.«

11.
    Wir fuhren wieder durch die Dunkelheit, nicht mehr auf der Straße, sondern auf der unbefestigten Sandpiste, die mittlerweile sanft anstieg. Im Schutz der Nacht erreichten wir die Ausläufer der Sierra de Los Filabres.
    Während der Weg steiler hinauf in die Berge führte, blickte ich zurück in die Ebene. Wir mochten jetzt zehn Kilometer von der Absturzstelle entfernt sein, das Totenlicht glühte wie ein Phosphorsee inmitten der nachtschwarzen Landschaft. Die Scheinwerfer der Fahrzeuge bildeten östlich davon eine Ansammlung von Lichtpunkten. Die Erleichterung darüber, dass sie sich nicht von der Stelle bewegten, machte es ein wenig leichter, wieder durchzuatmen. Aber der Schrecken über das, was wir mit angesehen hatten, saß tief. Möglicherweise hatte Tyler Emma und mir das Leben gerettet, aber das änderte nichts daran, dass er uns Erklärungen schuldete. Was wusste er über diese Leute? Warum konnten sie solche Dinge hier in Spanien tun, scheinbar ohne Angst vor Verfolgung und Strafe, so als befänden sie sich – eine Zwei auf meiner Skala – im tiefsten Sudan oder Kongo?
    »Emma«, rief ich nach vorn. »Alles klar bei dir?«
    »Ich mag Motorräder!« Falls sie Mitgefühl für die Menschen dort unten verspürte, konnte sie es nicht zeigen.
    Durch felsiges Gelände fuhren wir in einer weiten Kurve um eine Bergkuppe.

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