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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Vorerst war der Blick auf die Absturzstelle versperrt. Das dämpfte zwar das Gefühl, Lionheart könnte uns jederzeit mit Nachtsichtgeräten aufspüren, doch sahen wir nun auch nicht mehr, ob sie uns folgten.
    Ich hatte angenommen, dass wir früher oder später wieder auf eine Straße stoßen würden, über die wir durch die Sierra nach Baza und weiter nach Granada gelangen könnten. Doch augenscheinlich hatte Tyler andere Pläne.
    Vor uns auf dem Berg tauchte ein klotziger Umriss auf, ein wuchtiger Turm mit Kuppeldach, an den sich ein niedriges Haus drängte. Zerklüftete Felsblöcke umgaben die Anlage. Die Sandpiste führte halb um das Bauwerk zur Südseite des Berges, hoch über der Wüste.
    Vor dem Gebäude stand ein Geist und leuchtete wie eine einsame Fackel in der Nacht. Zu seinen Füßen lag ein Leichnam mit dem Gesicht nach unten.
    »Fy faen!« Tyler stoppte das Motorrad vor einer betonierten Auffahrt, mehr als zwanzig Meter von der Erscheinung und dreißig vom Haus entfernt.
    Ich ließ ihn los und rutschte vom Sattel. Sekundenlang stand ich so wacklig auf meinen Beinen, dass ich mir wünschte, ich wäre sitzen geblieben. Nach allem zog ich gar nicht erst in Erwägung, dass der Mann dort vorn eines natürlichen Todes gestorben sein könnte. »Warum fahren wir nicht weiter?«
    Tyler gab keine Antwort. Stattdessen sagte er zu Emma: »Steig mal ab.« Als sie gehorchte, wandte er sich mir zu. »Ihr wartet hier. Behaltet die Lionhearts im Auge. Ich bin gleich wieder da.«
    Er wollte Gas geben, aber ich legte ihm eine Hand auf den Arm. »Wo sind wir hier?«
    »Ich brauche nicht lange. Danach verschwinden wir.« In Emmas Richtung fügte er mit dem Anflug eines Lächelns hinzu: »Falls sich unten in der Ebene was tut, irgendetwas, dann ruft mich.«
    »Aye, aye, Sir!«, entgegnete meine Schwester, und weil sie wie üblich keine Miene dabei verzog, wirkte es auf rührende Weise pflichtbewusst.
    »Du kannst nicht einfach –«, begann ich, aber da streifte er meine Hand ab und fuhr los.
    Tyler hielt genau auf den Geist und den Leichnam zu, beschleunigte kurz davor noch einmal und raste mit Vollgas an beiden vorbei zum Haus. Für einen Moment war er hinter der gleißenden Gestalt nicht mehr zu sehen, dann tauchte er wieder auf und bremste unmittelbar vor dem Gebäude ab.
    »Das ist eine Sternwarte«, sagte Emma. »Ich hab so was schon mal gesehen.«
    Oben im Kuppelturm musste sich das Teleskop befinden. Vielleicht war der Tote in der Einfahrt ein Wissenschaftler gewesen, der in dieser Einsamkeit den Sternenhimmel beobachtet hatte.
    Erst jetzt fiel mir auf, dass aus dem offenen Eingang des Gebäudes ein schwacher Lichtschein fiel. Vielleicht gab es im Inneren weitere Geister. Oder aber der Mann hatte einfach nur die Lampen angelassen, bevor er ins Freie getreten und ums Leben gekommen war.
    Tyler ließ das Motorrad stehen und stieg die Stufen zur Tür hinauf. Ich hoffte, dass er wenigstens den Schlüssel hatte stecken lassen, für den Fall, dass ihm etwas zustoßen würde.
    »Er ist ziemlich cool«, sagte Emma. Es geschah nicht oft, dass Menschen sie beeindruckten, und erst recht nicht, dass sie es offen zeigte. Ich muss sie ziemlich fassungslos angesehen haben, denn sie fügte mit ernsthafter Miene hinzu: »Ich bin zu jung für ihn. Es würde nicht gut gehen.«
    »Er ist höchstens fünf, sechs Jahre älter als du«, war alles, was mir einfiel. Nicht allzu schlagfertig.
    »Ich bin Teenager«, sagte sie, als wäre das ein Makel, »und merkwürdig . Ich weiß das. Er ist erwachsen, Biker und in eine tote Französin verliebt. Ich wette, sie sah aus wie Amélie.« Sie verzog den Mund. »Aber die war auch merkwürdig.«
    Dafür, dass sie mich nach den Ereignissen der letzten Stunden zum Lächeln brachte, umarmte ich sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Sie roch nach Fahrtwind und Wüstensand.
    Als ich sie losließ, wanderte mein Blick über die Ebene. Keine Veränderung. Ich fragte mich, was sie so lange dort unten trieben. Dann fiel mir ein, dass es einige von ihnen vielleicht gerade wie wir machten und ohne Licht den Berg heraufkamen. Erneut krallte sich die Angst in mir fest. Eine Spur zu hastig fuhr ich herum und sah zum Eingang der Sternwarte. Nach wie vor fiel weißes Licht ins Freie. Von Tyler keine Spur.
    Eine Weile lang standen Emma und ich unschlüssig am Fuß der Auffahrt und warteten auf ein Zeichen von ihm. Irgendwo schrie ein Nachtvogel, es raschelte zwischen den Felsen. Vertrocknete Büsche knisterten,

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