Phantasmen (German Edition)
das Treppenhaus gesprengt hatte. Außerdem musste es dort noch immer brennen. Letztlich blieb uns also gar keine andere Wahl, als weiter dem Tunnel zu folgen und herauszufinden, wohin er führte.
Der Elektromotor surrte und die Gummireifen knirschten auf Sand und Schuttpartikeln. Nach einer Weile stießen wir auf den Flügel des Stahltors. Er lag quer im Tunnel, verbogen wie ein Stück Alufolie, und versperrte den Weg. Er hatte sich mit einer Ecke im Fels verkantet und würde sich nie wieder bewegen. Der Buggy passte nicht daran vorbei, egal an welcher Seite wir es auch versuchten.
»Also zu Fuß«, sagte Tyler.
»Ohne Licht?«
Emma kletterte auf die verzogene Stahlplatte und blickte den Tunnel hinab. »Seht mal!«
Der Torflügel knirschte und quietschte, als wir neben sie traten. Vor uns schimmerte ein wabernder Fleck inmitten der Finsternis.
»Weiß jemand, wie viel Uhr es ist?«, fragte ich.
Tyler zog die Taschenuhr hervor und hielt sie ins Scheinwerferlicht. »Kurz vor sieben.«
Vor etwas weniger als acht Stunden waren die Geister unserer Eltern aufgetaucht. Die Zeit, die seitdem vergangen war, war mir nicht mal halb so lang erschienen. Nun aber ging draußen die Sonne auf und blickte auf eine Welt, die nicht mehr dieselbe war wie am Abend.
Ich fragte mich, wie viele Menschen während der ersten Smilewaves ums Leben gekommen waren. Ein paar Millionen? Milliarden? Mein Gehirn weigerte sich, Bilder zu diesen Größenordnungen zu liefern.
Wir stiegen auf der anderen Seite des Torflügels wieder hinunter. Dann gingen wir langsam dem Lichtschein entgegen. Die Luft hier unten war mit Staub und Rauch gesättigt, das Atmen fiel mir immer schwerer. Auch meine Augen brannten. Wir hielten uns an den Händen, um einander in der Dunkelheit nicht zu verlieren.
»So muss es sich anfühlen, blind zu sein«, sagte Emma nach einer Weile.
»Nein«, entgegnete Tyler. »Blindheit ist anders. Du kannst gerade mal seit ein paar Minuten nichts mehr sehen, aber trotzdem hast du eine Vorstellung von dem, was dich umgibt. Du weißt, wie Felsen aussehen und der Asphalt auf dem Boden, und du kannst dir ausmalen, was dich im Tageslicht erwartet. Eine Blinde kann das nicht, schon gar nicht, wenn sie blind zur Welt gekommen ist.«
Emma schwieg und schien nachzudenken. Ich ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen.
»Flavie ist blind«, sagte er, »schon von Kind auf.«
Ich versuchte, ihn von der Seite anzusehen, erkannte aber nicht einmal sein Profil.
»Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt«, fuhr er nach einer Weile fort, »aber diese Nahtoderfahrungen … sie haben sie glücklich gemacht. Sie hat das dreimal erlebt, und dabei konnte sie sehen. Wirklich sehen, zum ersten Mal in ihrem Leben. Danach hat sie wochenlang nur von Farben gesprochen, von Lichtern, von Formen, die sie erkennen konnte. Und sie wollte das wieder und wieder erleben.«
Mir lief es eisig den Rücken hinunter. »Warte mal, hat sie … ich meine, wenn du sagst, sie wollte das erleben, bedeutet das, sie hat –«
»Ja.« Seine Stimme schwankte nicht, blieb ganz neutral. »Es waren Suizidversuche. Aber sie wollte nicht sterben. Sie wollte nur so viel Zeit wie möglich dort drüben verbringen, wo das Licht war und die Farben.«
Emma drückte einmal fest meine Hand, aber diesmal sagte sie nichts. Vielleicht, weil sie versuchte, ein so emotionales Verhalten logisch zu verarbeiten.
»Mehrere von ihnen waren blind«, sagte Tyler. »Nicht alle zwölf, aber vier oder fünf.«
»Was ist mit den Augenoperationen?«, fragte ich. »Die alte Frau hat gesagt, dass sie aufzeichnen konnte, was Flavie und die anderen gesehen haben.«
»Das sind nur Nervenimpulse, die das Gehirn in Bilder umrechnet. Wie ein Computer, der aus Einsen und Nullen eine perfekte Kopie der Mona Lisa erschafft. Ich glaube nicht, dass es jemals um Sehen im biologischen Sinne ging. Während der Nahtoderfahrungen hat Flavie etwas aufgefangen, das von ihren Nerven als optischer Impuls verstanden und weitergeleitet wurde. Bevor sie damals abgeflogen ist, hat sie mir erzählt, dass unter denjenigen, die ausgewählt worden waren, mehrere Blinde waren. Sie war sehr aufgeregt deswegen. Bis dahin hatte sie mit anderen, denen es genauso ergangen war wie ihr, nur im Internet gesprochen. In E-Mails und Foren und so weiter. Aber sie war noch keinem anderen Menschen begegnet, der blind und tot gewesen war.«
»Wie hat sie es getan?«, fragte Emma. »Ich meine, die
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