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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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finden können. Aber Tyler nahm sich nicht die Zeit, einen davon zu öffnen. Die Anzeige am oberen Bildrand sprang von Berechnung erfolgt auf eine knallrote 0:01 . Der Akku musste schon leer gewesen sein, als Tyler den Laptop aus dem Auto des Amerikaners geholt hatte.
    Mit bebenden Fingern zog Tyler die Disc aus der Hülle und steckte sie ins Laufwerk. Einen Augenblick später öffnete sich ein Abspielprogramm.
    Tyler klickte einen Button an und sofort nahm das Bild den ganzen Monitor ein. Eine sechsstellige Nummer erschien, darunter ein Name: Flavie Certier .
    Einen Moment lang tat sich nichts, dann füllte sich das Rechteck mit Pixelgewimmel. Querstreifen liefen zitternd von oben nach unten durchs Bild. Dazu ertönte ein Rauschen wie von starkem Wind. In der Mitte hellte sich der Monitor weiter auf, dann glitt ein Schatten vorüber und verschwand. Das Rauschen schwoll in unregelmäßigen Schüben an und wieder ab. Die Helligkeit wurde stärker, die Ränder verfestigten sich.
    Im Zentrum des Monitors öffnete sich ein Fenster mit einem Warnhinweis. Jeden Moment würde sich das Gerät ausschalten.
    Tylers Fingerspitze huschte hektisch über das Touchpad. Das Fenster verschwand.
    Wieder Schatten im Bild, viel zu undeutlich, um etwas zu erkennen.
    »Hol die Disc raus«, sagte ich.
    »Moment noch. Vielleicht kann man –«
    Der Monitor erlosch. Das Surren des Laufwerks brach ab.
    Tyler hämmerte auf die Tastatur, aber das Gerät war tot. Die Disc steckte im Inneren fest. »So eine Scheiße!«
    Seufzend lehnte ich mich gegen die Felswand.
    »Falls wir hier rauskommen«, begann Emma, »also, ich hab auch das Kabel eingepackt.«
    Tyler starrte sie im blassen Grau des Totenlichts an. »Ich hab gar kein Kabel mitgenommen.«
    »Aber ich. Es lag auf der Rückbank zwischen all dem anderen Kram.«
    Tyler brummte etwas auf Norwegisch, klappte das Gerät zu und legte es neben sich auf den Boden.
    »Besser, ich nehm das wieder.« Emma wartete einen Moment lang auf Widerspruch, dann ergriff sie den Laptop und schob ihn zurück in ihren Rucksack. Zuletzt steckte sie auch die leere Kunststoffhülle der Disc dazu und ließ die Klickverschlüsse einrasten. Sie umschlang den Rucksack mit beiden Armen vor der Brust und legte müde den Kopf an meine Schulter.
    Wenig später schlief sie tief und fest.
    »Ruh du dich auch aus«, sagte Tyler. »Ich bleib wach und passe auf.«
    Ich schüttelte noch den Kopf, muss aber trotzdem eingenickt sein, denn das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist Tylers lautes Gebrüll.
    »Steht auf! Beeilt euch! «
    Die Smilewave war vorüber. Wir hatten freie Bahn.
    Benommen schob ich mir das Nachtsichtgerät über die Augen und rannte mit Tyler und Emma ins Totenlicht.

25.
    Die Welt war grün geworden. Und unscharf.
    Harte Kontraste zwischen Hellgrün und Dunkelgrün, das eine weißlich, das andere fast schwarz. Dazwischen Schattierungen, die sich laufend verschoben. Alles bekam einen Schweif, jeder Farbfleck, jede noch so kleine Spur von Licht. Die Umgebung war zum Leben erwacht, jede Oberfläche, jede Struktur, jeder Umriss. Alles wogte und waberte, und schon nach den ersten Schritten hatte ich das Gefühl, ich befände mich am Grund eines Gewässers, in dem Strömungen die ganze Welt in Bewegung versetzten.
    Wie liefen an den Leichen im Tunnel vorbei, durch den Zugang zum Sterbehaus in einen breiten Korridor. Rechts und links gingen zahlreiche Türen ab. Alle standen offen.
    Überall lagen Tote. Sie waren übereinander gestürzt bei dem Versuch, den Ausgang zum Tunnel zu erreichen: Ärzte und Krankenschwestern, Pfleger in weißer Kleidung. Sogar ein paar Sterbenden war es gelungen, ihre Betten in den Zimmern zu verlassen und hinaus auf den Korridor zu kriechen. Ich sah, dass man ihnen die Augen verbunden hatte; Nachtsichtgeräte für alle waren wohl zu teuer gewesen. An den Gürteln uniformierter Wachleute waren Pistolenholster befestigt, aber in keinem steckte eine Waffe. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte ich, dass die Männer ihre Pistolen gezogen hatten. Sie mussten vergeblich versucht haben, sich mit Warnschüssen einen Weg durch das Gedränge zu bahnen. Die Waffen lagen unter oder neben ihnen. Ich hob drei davon auf, steckte eine in meinen Hosenbund und reichte die beiden anderen Tyler und Emma.
    Alle diese Menschen waren noch nicht lange tot, gerade mal einen Tag, aber der Gestank war bereits jetzt entsetzlich. Beim Laufen und Klettern blickte ich in ihre Gesichter: grünweiße Haut, darüber

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