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Phantasmen (German Edition)

Phantasmen (German Edition)

Titel: Phantasmen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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unendliche Anzahl von Geistern sammeln kann. Sobald jemand gestorben ist, bringt man die Leiche weg und legt den nächsten Sterbenden an seine Stelle. So erscheinen die Geister alle am selben Fleck, und das lässt sich beliebig oft wiederholen.«
    Zu Anfang hatte ich selbst einmal eine der zahllosen Petitionen im Internet gegen die Sterbehäuser unterschrieben. Protest dagegen hatte zum guten Ton gehört, so als wären die Geister Pandabären, die es unbedingt zu schützen galt. Das war naiv gewesen, pures Mitläufertum. Der Gedanke hinter den Sterbehäusern war nachvollziehbar, nur die Durchführung war unmenschlich – etwa wenn Ehepaare getrennt wurden, um die Sterbenden in einem der Lager unterzubringen, und ihre Angehörigen dort keinen Zutritt hatten.
    Die Angestellten der Sterbehäuser mussten unter den Ersten gewesen sein, die von den Smilewaves getötet worden waren.
    »Wenn da drinnen hunderttausend Geister stehen – oder auch nur tausend –, dann war’s das jetzt«, sagte Emma. »Selbst wenn uns das Lächeln nicht umbringt, blendet uns ihr Licht und wir finden nie und nimmer den Ausgang.«
    Tyler betrachtete mit seinem Fernglas die Leichen am Boden unterhalb der Erscheinungen. »Vielleicht doch.«
    »Haben sie Brillen dabei?«, fragte ich.
    Tyler nickte.
    Eigentlich waren es keine echten Brillen, sondern modifizierte Nachtsichtgeräte. Da das Totenlicht weder Wärme abstrahlte noch Infrarotstrahlung reflektierte, konnte es von den Brillen nicht erfasst werden; beim Blick hindurch wurden alle Erscheinungen unsichtbar. Die Menschen, die in den Sterbehäusern tätig waren – Krankenpfleger, Ärzte, Wachpersonal –, konnten sich so im Totenlicht bewegen, ohne davon geblendet zu werden.
    Falls wir es schafften, uns damit auszurüsten, hatten wir vielleicht eine Chance, einen Weg durch das Sterbehaus zu finden.
    »Gegen das Lächeln wird uns das auch nicht helfen«, sagte Emma.
    »Wir warten die nächste Smilewave ab«, erwiderte Tyler. »Sobald sie vorbei ist, gehen wir rein.« Er steckte das Fernglas ein und rannte los. »Wartet hier, ich hol uns die Brillen.«
    »Ich komm mit«, sagte ich und folgte ihm.
    Er beugte sich über eine der Leichen, einen Mann im weißen Kittel, und zerrte ihm das Nachtsichtgerät vom Kopf. Ich holte mir eines von einer jungen Krankenschwester. Sie alle waren auf den letzten Schritten gescheitert, keiner lag weiter als zehn Meter vom Zugang entfernt.
    Das dritte Nachtsichtgerät stammte von einer Pflegerin. Sie lag zusammengerollt wie ein Embryo und hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Tyler musste ihr die erstarrten Finger brechen, um die Brille von ihrem Kopf zu ziehen.
    Mit der Ausbeute unserer Leichenfledderei eilten wir zurück zu Emma. Jeder von uns setzte eines der Geräte auf. Sie hatten Ähnlichkeit mit Tauchermasken, deren Gläser durch Kameras ersetzt worden waren. Der Blick hindurch war ungewohnt: Die Umgebung verpixelte zu einem harten Raster aus Grüntönen. Tyler und Emma, die einzigen warmblütigen Geschöpfe in meiner Nähe, sahen nun selbst aus wie Gespenster. Ihre Konturen glühten, vor allem dort, wo ihre Haut nicht bedeckt war, am Kopf und an den Händen. Ihre Nachtsichtgeräte lagen wie schwarze Balken vor ihren Augen.
    Als ich mich umschaute, waren die Geister am Ende des Tunnels verschwunden. Durch den Zugang zum Sterbehaus fiel kein Totenlicht mehr.
    Jetzt blieb uns nur noch zu warten. Als wir uns die Brillen auf die Stirn schoben, standen die Geister wieder unverändert über den Toten am Eingang. Das Innere des Sterbehauses strahlte so hell wie die Sonne.
    In ausreichendem Abstand setzten wir uns an die Tunnelwand. Emma nahm den Rucksack ab, öffnete ihn und zog zu meiner Überraschung den silbernen Laptop des Amerikaners hervor. Ich hatte ihn zuletzt gesehen, als Tyler ihn in die Satteltasche der Black Shadow geschoben hatte. Emma musste ihn eingesteckt haben, als wir das Motorrad im Olivenhain zurückgelassen hatten.
    Nun reichte sie ihn Tyler. »Versuch’s mal mit der Disc.«
    Zögernd holte er sie aus seiner Jacke. Ein elektronischer Ton erklang, als er das Gerät einschaltete.
    Da deutete Emma zu den Geistern hinüber. Das Grinsen verzerrte ihre Gesichter zu hämischen Fratzen. »Es geht los.«
    Tyler blickte auf die Taschenuhr. »Dann sehen wir mal, wie lange es anhält.«
    Fahle Helligkeit fiel auf unsere Gesichter. Mehrere Dateiordner waren am Rand des blauen Bildschirms aufgereiht, möglicherweise hätten wir darin Antworten

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