Phantasmen (German Edition)
Lautsprechern drang Rauschen, und daran änderte sich nichts, als ich die Programmtasten durchprobierte. Konnte das wirklich so schnell gegangen sein? Innerhalb eines Tages brach alles zusammen, sogar das Nachrichtennetz? Selbst wenn landesweit der Strom ausfiel, mussten Radiosender doch über Notgeneratoren gespeist werden, um weiterhin Informationen zu verbreiten. So hatte ich es in hundert Katastrophenfilmen gesehen, und mir erschien es nur logisch. Gab es das Internet noch? Funktionierten die Telefone? Das alles konnte doch nicht über Nacht zusammengebrochen sein.
Ich stellte das Radio aus und atmete auf, als das Rauschen abbrach. Etwas daran hatte mich stärker beunruhigt als nur das Fehlen von Musik und Stimmen. Im Rückspiegel sah ich Emmas Gesicht und da wusste ich, dass sie denselben Gedanken hatte: Das Rauschen hatte auf erschreckende Weise an die Tonkulisse des Videos erinnert, Flavies verpixelten Blick in die Kammern des Kalten Wassers.
Tyler wendete den Wagen und fuhr durch die Einfahrt auf eine staubige Straße. Wir waren noch immer in der Wüste, obwohl wir uns ein gutes Stück vom Solarfeld entfernt haben mussten. Die Sonne war erst vor kurzem über dem Hügelland im Osten aufgegangen. Wir mussten uns südwestlich der Anlage befinden, in den Ausläufern der Sierra de Los Filabres, denn der Einstieg zum Sterbehaus lag in einem Berghang.
Die Straße gabelte sich bald. Nach rechts führte sie in westlicher Richtung hinauf in die Berge; nach links wies sie zum Horizont im Süden, hinter dem die Küste und das Mittelmeer lagen.
Tyler stoppte den Wagen an der Gabelung. »Hier müssen wir dann wohl eine Entscheidung treffen.«
»Was hast du jetzt vor?«, fragte ich. »Wegen Flavie, meine ich.«
Er starrte schweigend hinaus in die Wüste. Flavie war vor zwei Jahren nach Amerika verschleppt worden. Selbst wenn er ihren genauen Aufenthaltsort gekannt hätte, war es mittlerweile wohl unmöglich, eine solche Distanz zu überwinden. Ob ein Flugzeug starten würde, war fraglich, und auf der Flucht vor den Smilewaves waren sicher sämtliche Schiffe längst in See gestochen. Und dann war da die Ungewissheit, ob Flavie nach all der Zeit überhaupt noch lebte. Wir hatten gesehen, was aus den Probanden in der Hot Suite geworden war; um die acht anderen stand es womöglich nicht besser. Ich brachte es nicht übers Herz, ihm das ins Gesicht zu sagen, aber natürlich war er selbst schon auf diesen Gedanken gekommen.
»Haven meinte, Whitehead beschäftige die besten Ärzte«, sagte er. »Es müsste in seinem Interesse liegen, Flavie und die anderen bei Kräften zu halten. Bestimmt haben die sie nicht ohne Wasser und Nahrung in irgendeinem Loch zurückgelassen, wie die Salazars es mit den übrigen vier gemacht haben.«
Ich nahm die Dose aus dem Handschuhfach und reichte sie nach hinten zu meiner Schwester. Sie schüttelte den Kopf, aber ich hielt sie ihr mit Nachdruck hin, bis Emma sie nahm und neben sich auf die Rückbank legte. Sie hatte schon eine ganze Weile lang nichts mehr gesagt und sah nachdenklich aus.
»Es ist wegen Grandma und Granddad, hm?«
Ihre Miene verriet keine Trauer. »Ich wüsste gern, was aus ihnen geworden ist.«
Die beiden lebten in einem Vorort von Cardiff, inmitten grauer Reihenhäuser, in denen überwiegend Menschen jenseits der sechzig wohnten. In Gegenden wie diesen starb nahezu täglich jemand, an Krankheiten, am Alter, an Einsamkeit. Zuletzt hatte es dort nur so gewimmelt von Geistern, und es war nicht schwer, sich auszumalen, was dort während der ersten Smilewaves geschehen war.
Ich hätte lügen können, um sie zu trösten, aber ich wollte ihr nichts vormachen. Sie waren nicht entkommen. Ihre Geister standen in ihrem kleinen Wohnzimmer vor dem elektrischen Kaminfeuer. Oder in der Küche neben der Mikrowelle. Vielleicht waren sie noch ins Freie gelaufen, um nach Hilfe zu rufen, und hatten es durch den halben Vorgarten geschafft. Die Vorstellung, dass der Geist meines Großvaters für immer dort stehen würde, war merkwürdig vertraut: Die paar Quadratmeter Rasen waren ihm fast so wichtig gewesen wie sein Ale abends im Pub. Irgendwann würde ihm das Gras bis zu den Hüften reichen, während sich die Gärten ringsum zu einer neuen Wildnis vereinten.
Ich wollte Emma sagen, dass es mir leidtat. Dass ich auch um die beiden trauern würde, später, wenn wir in Sicherheit waren. Aber stattdessen deutete ich nur auf die Dose. »Komm, trink das. Wenigstens ist eine Menge Zucker
Weitere Kostenlose Bücher